„Perfektionismus ist zum Kotzen“

Heute gibt es mal wieder eine Geschichte von euch und sie zeigt deutlich, wie Perfektionismus und Essstörungen zusammenhängen. Aber sie zeigt auch, dass – wenn man seinen Perfektionismus und die Auswirkungen erkennen und verstehen kann – der Weg raus aus der Essstörung möglich ist:

(D)eine Geschichte

Anders als bei vielen Mädchen mit Essstörungen kann ich mich noch genau an den Beginn meiner Probleme erinnern. Es war nur der Auslöser und nicht die Ursache meiner Krankheit, aber es brachte die Dinge erstmals ins Rollen. Zu diesem Zeitpunkt war ich 17 Jahre alt und lebte mit meiner Familie ein Expatleben in Dubai. Wie es bei pubertierenden Teeangern nun mal so ist, hatte ich mit Akne zu kämpfen und entschied mich, diese durch das Medikament Roakutan zu behandeln. Hätte ich gewusst, welche Auswirkungen es auf meinen Körper haben würde, hätte ich dankend abgelehnt und ein paar weitere Jahre pickeliger Haut über mich ergehen lassen. Ich war ständig müde, hatte Gelenkschmerzen, bekam Wassereinlagerungen in den Beinen und zu meinem Entsetzen, nahm ich in wenigen Monaten ca. 10 Kilo zu. Zu sagen, dass ich mich in meinem Körper auf einmal nicht mehr wohl fühlte, wäre wohl eine milde Untertreibung. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaute, konnte ich nicht fassen, dass dieses schwabbelige Ding tatsächlich ich sein sollte. Ich, die doch sonst immer schlank und fit war und ihr Leben als selbstbekennende Perfektionistin voll im Griff hatte. Ich fühlte mich fremd in meinem sich sowieso schon verändertem Körper, nicht mehr ich selber und entschied: Die Kilos müssen wieder runter. Somit begann ich das 1. Mal in meinem Leben eine Diät. Auch der Sport, den ich sonst so liebte, diente auf einmal einzig und allein der Fettverbrennung. Am Anfang purzelten die Pfunde nur so, doch es wurde immer schwieriger und ganz auf mein Ausgangsgewicht kam ich einfach nicht mehr zurück. Auch konnte ich mein Gewicht nicht lange halten und verfiel somit dem Jo-Jo-Effekt. Ich wollte immer noch weniger und weniger wiegen, und die Waage wurde zu meinem ärgsten Feind und gleichzeitig bestem Freund. Mich das 1. Mal zu übergeben war dann keine aktive Entscheidung, sondern viel mehr ein Akt der Verzweiflung eines verlorenen Mädchens. Und das, das war der Beginn meiner Bulimie…

Der Tiefpunkt

Die Zeit vergeht… Ich ziehe aus dem Elternhaus aus, fange ein Studium in der Schweiz an und absolviere wenig später ein 4-monatiges Praktikum in London. Mittlerweile hat mich die Bulimie fest im Griff, der Gang auf die Waage ist das Highlight meines Tages und ich habe ein ausgetüfteltes System entwickelt, mein Umfeld nichts mitbekommen zu lassen. Ich belüge Familie und Freunde, und noch viel schlimmer, ich belüge mich selber.

Meinen Tiefpunkt erreiche ich im März 2012: Ich bin verzweifelt, hilflos und langsam dämmert es mir, dass ich so nicht weitermachen kann. Ich vertraue mich meinem Freund an, dem ich bis zu diesem Zeitpunkt nur erzählt hatte, dass ich früher Probleme gehabt hätte und dass das Schlimmste vorbei ist. Aber nein, das Schlimmste stand mir ja erst noch bevor! Der erste Schritt war getan, aber was nun? Meine Eltern drängten mich dazu, eine Therapie anzufangen, aber da mein London-Aufenthalt bald schon vorüber ist, entschied ich mich dafür zu warten, bis ich wieder in der Schweiz bin. Bis dahin, so nahm ich mir vor, werde ich selbstständig alles dafür tun, damit es mir wieder besser geht. Ich fange an, online zu recherchieren, verschlinge ein Selbsthilfebuch nach dem anderen und dann, ganz per Zufall, stolpere ich über lebenshungrig.de.

Der Ausweg

Rückblickend ist das der Wendepunkt, der Eintritt in eine Welt voller Gefühle und Emotionen, den ich mir bis dahin selber verschloss. Der Workshop scheint wie für mich gemacht, und tatsächlich stürze ich mit Motivation und Zuversicht auf die wöchentlichen Aufgaben, fange an, wie eine Verrückte zu schreiben und telefoniere in regelmäßigen Abständen mit Simone.

Aber, desto tiefer ich grabe, desto mehr Probleme treten auch an die Oberfläche und mir wird das Ausmaß meiner Problematik erstmals richtig bewusst. Wie konnte ich nur so tief sinken, und es nicht mal mitbekommen?! Desto härter ich kämpfe, desto mächtiger scheint meine Krankheit zu werden und wehrt sich mit allen Mitteln dagegen, von mir abgeschüttelt zu werden. Wie oft lag ich nachts heulend in den Armen meines Freundes, weil ich schon wieder eine Fressattacke hatte und es einfach nicht besser zu gehen schien? Aber ich gebe nicht auf, denn tief in mir schlummert mein persönlicher Lebenshunger, der mich dazu bringt mich immer wieder aufzurappeln und mich nicht fallen zu lassen. Ich glaube, dass ist eines der schwersten Dinge und eine der wichtigsten Lektionen, die ich gelernt habe: sich zu verzeihen, nach vorne zu schauen und weiterzukämpfen.

Und siehe da, mit der Zeit fangen die Puzzleteile an sich zusammenzusetzen, z.B. verstehe ich jetzt den Zusammenhang zwischen den vielen Umzügen und dem Bedürfnis von allen gemocht zu werden, ich verstehe, warum mein Perfektionismus dazu führt, dass ich mir selber unglaublichen Druck aufbaue und beginne zu realisieren, dass meine negative Grundeinstellung mir nur zum Nachteil ist. Ich fange an, wirklich an mir zu arbeiten, jeden noch so kleinen Gedanken zu analysieren und alte, selbstzerstörerische Verhaltensweisen zu entrümpeln. Dank des Workshops rückte mein Gewicht und das Essen in den Hintergrund (eine der ersten Dinge, die ich tat, war, mich nicht mehr zu wiegen) und für das 1. Mal beschäftigte ich mich mit meinem Inneren.

Das Ziel

Mittlerweile empfinde ich regelrechte Freude daran, mein Verhalten zu hinterfragen, stets zu neuen Erkenntnissen zu kommen und aus Fehlern zu lernen. Als ich mit dem Workshop angefangen habe, wusste ich nicht, wer ich bin, und nun befinde ich mich auf einer Selbstfindungsreise, die meinen Charakter mit jedem Tag mehr stärkt. Nach zwei Jahren habe ich zwar immer noch FA’s, Tage, an denen die Essgestörte in mir rauskommt und ich meinen Körper hasse, aber ich bin auf dem richtigen Weg. Meine Reise ist noch nicht zu Ende, aber das Ziel habe ich vor Augen und werde es nicht aufgeben.

Ganz herzlichen Dank für das Teilen dieser Geschichte!

Welche Gemeinsamkeiten hat sie mit deiner Geschichte und wann schickst DU mir DEINE?

lebenshungrige Grüße

Simone