Die fünfzehnte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich hatte immer Probleme mit meiner Figur, seit ich 8 Jahre alt war. Wir waren vom Land in eine Kleinstadt gezogen, ich wurde in der neuen Klasse schlecht aufgenommen und meine alleinerziehende Mutter, gerade 26, steckte in ihrer ersten richtigen Beziehung und ihrem ersten festen Job. Kurz, für mich war zum ersten Mal in meinem Leben keine Zeit, nun sei meine Mutter dran, so hieß es. Ich war viel alleine zuhause und tröstete mich bald gewohnheitsmäßig mit dem Nächstliegenden: Essen und Fernsehen. So wurde ich zum ersten Mal leicht übergewichtig.

Vor dem Umzug war ich ein sehr agiles und beliebtes Mädchen gewesen, offen, herzlich und selten schüchtern. In dieser Zeit aber wurde ich immer schüchterner, vorsichtig, selbstunsicher und introvertiert. Vor allem todunglücklich. Mit einem Klassenwechsel nach der Grundschule verbesserte sich meine Situation aber, ich gewann Freunde, trat einer Pfadfinder-Gruppe bei, die mir Halt und sehr abwechslungsreiche Freizeitgestaltung bot. Das Übergewicht verwuchs sich. Doch Trostessen und den eigenen Körper zu verabscheuen war und blieb gelernt.

Als Frühstarter entwickelte ich schon mit elf weibliche Formen, was mich sehr irritierte. Ich kam eher meinem in meinem Leben abwesenden Vater nach, dessen Mutter und Geschwister alle teilweise schwer übergewichtig waren. Die Familie meiner Mutter ist sehr schlank und ich fühlte mich oft schon rein äußerlich als Fremdkörper in der Familie, weil ich meinem Vater so nachschlug.

Mit 13 verbrachte ich Stunden unglücklich in den Spiegel blickend: wie hässlich ich war! Unförmig und fett! Aber auch sonst ließ ich kein gutes Haar an mir. Alle meine Freundinnen schienen mir klüger, begabter, schöner, kultivierter, gebildeter, interessanter als ich. Ich war nur der Kasper, der alle unterhielt, den man aber kaum ernst nehmen konnte. Und das tat ich vor allem auch selbst nicht, ich hatte es nicht gelernt.

Meine Mutter hatte inzwischen einen neuen Partner, mit dem sie ihren Hang zum Alkoholmissbrauch so richtig ausleben konnte. Zuhause war die Hölle, meine Mutter betrank sich jedes Wochenende bis zur Besinnungslosigkeit, oft wurde sie bewusstlos nach Hause gebracht, sie war wirklich jenseits von gut und böse. Es tat mir so weh sie so zu sehen, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Wir hatten ein wirklich ambivalentes Verhältnis. Heute weiß ich, das ich ihr zum Partnerersatz wurde. Mit mir sprach sie über ihre Ängste und Probleme, auch über solche, die mit ihrem Freund zu tun hatten. Vor allem aber über die Arbeit, die sie eigentlich total überforderte und über Geldprobleme. Und so forderte sie immer wieder meine Unterstützung, mein Verständnis und meine Geduld ein. In unserem Leben ging es um sie, ich hatte zu verstehen und zu funktionieren.

Ab und zu schimmerte durch, das sie ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie sich nicht um mich kümmerte. Dann gingen wir meistens Klamotten einkaufen, was mir natürlich sehr gefiel. Jedoch verinnerlichte ich damit, einige ziemlich schädliche Einstellungen: das Prinzip alles oder nichts. Wenn wir einkaufen gingen, dann B E R G E. Das kam so zweimal im Jahr vor. Ich weiß noch, das ich es ganz unglaublich fand, wenn eine Freundin mir erzählte, sie hätte sich gerade E I N Oberteil gekauft. Weil mir das schlicht als „nicht genug“ erschienen wäre.

Glücklicherweise hatte ich durch meine stete Aktivität bei den Pfadfindern, die mir wirklich zur zweiten Familie wurden, Gelegenheit nicht nur Spaß zu haben und viel über mich selbst, Gruppenstrukturen und den direkten Umgang mit der Natur zu lernen, sondern auch mich mit Nachhaltigkeitsthemen konfrontiert zu sehen, lebhaft zu diskutieren und alternative Wege kennen zu lernen.

Somit lebten zwei Seelen in meiner Brust: eine die genau wusste, wie zu handeln eigentlich „richtig“ wäre und eine, die gelernt hatte, alle schlechten Gefühle durch Konsum zu kompensieren.

Das steigerte meinen Selbsthass noch und nöcher. Ich lebte in ständigem Vergleich und Selbstzweifel, kompensierte diese ewige Auf-mich-selbst-Eingehacke mit Ablenkung durch den fortwährenden Versuch dazuzugehören und „cool“ gefunden zu werden (ich lechzte förmlich nach Anerkennung derer, die ich bewunderte) und wenn allein zuhause, Essen und Fernsehen. Meine Mutter bekam dieses Verhalten mit und beschimpfte mich in cholerischen Ausbrüchen, als faul und fett und nichtsnützig, das entsprach ja aber auch meiner eigenen Wahrnehmung, was die große Selbsthasskerbe nur noch tiefer schlug.

Das Gute mit meiner Mutter war und ist, das wir in großer Ehrlichkeit miteinander umgehen können. Es gab selten Geheimnisse und wenn ihr Zorn verraucht war, so brutal er auch sein mochte – versuchte sie immer mir mit Verständnis zu begegnen. Dennoch fehlte mir, seit wir in diese Kleinstadt gezogen waren, im Endeffekt die Mutter. Sie war vielleicht so etwas wie eine Freundin, aber sie konnte, selbst vom Leben überfordert, mir wenig geben und ich lebte in ständiger Angst, das ihr Alkoholismus sie den Job oder sogar das Leben kosten würde.

Mit 17 hielt ich es nicht mehr aus, den Selbstzerstörungskurs meiner Mutter hilflos mit anzusehen und zog aus. Irgendwie boxte ich mich auf den letzten Drücker durch´s Abitur, ich hatte die Schule lange schleifen lassen, bis mir plötzlich klar wurde, dass DAS nun eine entscheidende Sache ist und ich setzte alles daran, das möglichst gut zu machen. Und ich schaffte ein okay-gutes Abi. Dabei nahm ich allerdings ordentlich zu, womit es mir richtig schlecht ging. Mein Freund, mit dem ich damals seit zwei Jahren zusammen war, unterstützte mich wo er konnte und gab mir nie das Gefühl zu dick zu sein. Aber ich war trotzdem kreuz-unglücklich mit meinem Körper.

Nach dem Abi stürzte ich in ein tiefes Loch. Ich hatte keine Ahnung, was aus mir werden sollte, was ich wollte. Ich hatte immer nur gelernt, den Leuten um mich, meiner Mutter, den Pfadfinderfreunden zu entsprechen und ihnen zu gefallen, darum Abitur und viel Jugendarbeit (ich hatte selbst über viele Jahre eine Gruppe) gemacht. Aber ich hatte keine Ahnung was I C H eigentlich wollte und konnte. Ich konnte nur sagen, das ich mich und was ich an mir nicht leiden konnte. Die Liste war lang und vor allem aus Vergleichen mit meinen coolen Freunden geboren. Auch aus dem Bedürfnis Jungs gefallen zu wollen. Ich träumte davon, von allen bewundert zu werden und alle Kerle sollten sich in mich verlieben. Tatsächlich aber hatte ich keinen Schlag beim anderen Geschlecht. Es waren immer meine Freundinnen, für die sich interessiert wurde und ich war in meinem Neid auf sie beschämt und unglücklich. Ich schob das natürlich alles auf meine Figur in erster Linie (obwohl ich auch fand, das ich charakterlich ebenso „schlecht“ abschnitt).

Dabei verkannte ich vollkommen, das ich einen wunderbaren Freund hatte, der sich wirklich sehr um mich bemühte und mich ganz offensichtlich genauso liebte, wie ich war. Aber ich wollte mehr – ich wollte mich endlich selbst mit mir wohlfühlen, „richtig“ leben und – insgeheim – immer noch bewundert und respektiert werden. Das war wohl das in der Grundschule gemoppte, einsame kleine Mädchen, das diesen Wunsch hervor brachte.

Ich rappelte mich also auf: begann zaghaft Sport zu machen, meine Ernährung umzustellen, vegetarisch, regional, bio, viel Gemüse, viel Obst, fettarm. Ich fasste in einem Moment der Klarheit, den Entschluss eine Töpferlehre zu machen, machte erst einmal ein Praktikum, fand dann einen Ausbildungsplatz, der es mir auch erlaubte, die Jugendarbeit weiter zu führen. Ich hatte unheimlich Drive in der Zeit, wusste zum ersten Mal, was ich wollte und zog von der WG in der ich zwei Jahre gewohnt hatte, in meine eigene kleine Wohnung. Das erste Jahr der Ausbildung lief glänzend. Ich lernte viel, war begeistert, machte viel Sport, besuchte meinen Freund in der Nachbarstadt und genoss dort mit ihm das Nachtleben. Meine Chefin war herzlich und kompetent, aber auch sehr anspruchsvoll und konnte hart bis verletzend sein. Verbale Schnippen gehörten zum Alltag, ich nahm das in Kauf, weil ich viel lernen konnte. Außerdem kannte ich das von meiner Mutter und wusste, auch wenn es manchmal wirklich weh tat, das es eigentlich nicht so gemeint war.

Es gelang mir rund zehn Kilo in einem Jahr zu verlieren. Doch es war nie genug. Ich fand mich immer noch zu viel. Ich hasste meine weiblichen Formen, sehnte mich nach dem „Heroin Chic“, diese Art von sichtbarer Zerbrechlichkeit, auch und gerade, weil ich in meinem Alltagsleben niemals Schwäche zeigen konnte. Meiner Chefin gegenüber zeigte ich mich stets locker und freundlich. Meiner Mutter signalisierte ich immer, das es mir total gut ginge, damit sie sich nicht um mich sorgen musste und ihr Leben auf die Reihe bringen konnte. Eigentlich aber wollte ich genau das: das meine Mutter sich um mich sorgte und DARUM endlich ihr Leben mal hinten an stünde und sie sich UM MICH kümmerte. Doch von dieser Erkenntnis war ich weit entfernt. Und meine Mutter war weit davon entfernt, sich um mich kümmern zu können. Sie steckte in der nächsten destruktiven Beziehung, einer Ehe, die mir zuerst die Hoffnung gab, sie würde sich nun endlich klar kriegen. Der Mann war sanft und freundlich, Akademiker, lebte sehr gesund, spielte Saxophon und hatte eine kleine Tochter, die er über alles liebte. Jedoch, die Dynamik zwischen meiner Mutter und ihm wollte es, dass beider cholerische Natur das Schlechteste aus ihm heraus holte und er begann, sie immer schlimmer zu schlagen.

Meine Mutter blieb mein Sorgenkind. Doch wer sorgte sich um mich?

Da war mein Freund, aber ich konnte ihn immer weniger ernst nehmen, gerade W E I L er mich so bedingungslos liebte. Ich wusste ja besser, wie s c h l e c h t   ich eigentlich war und ich wünschte ihm etwas Besseres.

Ich aß immer restriktiver, zählte verbissen insgeheim Kalorien und fühlte mich permanent schuldig. Obwohl meine Gedanken ständig um das richtige Essen, Sport und Abnehmen kreisten, sprach ich mit niemandem darüber, wollte bloß nicht die „Diät-Tante“ sein. Stattdessen tat ich so, als ginge es mir allein um eine gesunde und nachhaltige Lebensweise (dabei rauchte ich wie ein Schlot und trank Unmengen schwarzen Kaffee). Eigentlich war ich damit beschäftigt mit meinem Körper eine Botschaft zu formulieren: Wenn ich erst so und soviel Kilo wöge, D A N N…

…erhoffte ich mir Aufmerksamkeit meiner Mutter, Bewunderung durch Freunde und Männer (die ich gar nicht wahr zu nehmen gedachte, ich wollte wirklich nur toll gefunden werden) und gleichzeitig, die innere Bestätigung: ich lebe „richtig“, rein, unschuldig, gemäßigt, sportlich, agil. Leider war ich bald völlig erschöpft. Mein Freund schien mir zu anspruchslos und unehrgeizig, außerdem trank er oft zu viel und das stieß mich furchtbar ab. Nach dreieinhalb Jahren trennte ich mich schließlich von ihm, weil ich seine Liebe nicht mehr erwidern konnte.

Schon seit einiger Zeit hatten sich nun in mein diszipliniertes Diät-Alltagleben kleinere und größere Essanfälle Bahn gebrochen. Ich verstand nicht, was mir da passierte, schämte mich abgrundtief und reagierte mit ausgleichendem Sport. Nach zwei Jahren geheimen Diätlebens, dämmerte mir langsam, das ich ein Problem entwickelt hatte, das zum Selbstläufer wurde. Ich fühlte mich permanent schlecht: schuldig und kraftlos. Nur Bewunderung von außen konnten mich manchmal anheben. Meistens war ich müde und niedergeschlagen, weil irgendwas zu viel war: die Zahl auf der Waage oder die Zahl der aufgenommenen Kalorien. In der Stadtbibliothek, in der Sektion für Kochbücher etc. stieß ich auf ein Buch über Bulimie, das ich mit Entsetzen und Faszination las. In vielem erkannte ich mich wieder. Aber gekotzt hatte ich bis dato noch nie.

Die erste Phase mit meiner Essstörung verlief also glücklich: ich nahm ab, ich verspürte Macht über meinen Körper und mein Leben, ich bekam Aufmerksamkeit und Bewunderung. Zum ersten Mal hatte ich wirklich auch Freude an meinem Körper. – Jedenfalls eine Zeit lang. Als mein Gewicht aber gesunderweise zu stagnieren begann (mein Körper hatte nicht so Lust sich einfach in die Untergewichtigkeit steuern zu lassen), fühlte ich mich als Versager und griff immer wieder auf das mir nächstliegende Trostmittel zurück: Essen. Und vor allem verbotenes Essen! Dazu Fernsehen. Und alles vergessen.

Bald hatte ich den Trick mit dem Erbrechen heraus und nun begann die nächste Phase meiner Essstörung: Erkennen und nichts dagegen tun können. Hoffen, das das von selbst wieder weg geht. Wenn man nur richtig lebt. Wenn man nur endlich den richtigen Job, den richtigen Partner hätte, in der richtigen Stadt, nicht mehr alleine lebte. Ich zog wieder in eine WG, in der Hoffnung, das mich das von meinen regelmäßigen Fress-Kotz-Orgien abhalten würde. Ich investierte Unmengen an Geld in verbotenes Essen und Mitgliedschaften in Fitnessclubs, in denen ich mich nie wohl fühlte. Vor der strengen Chefin war ich stets freundlich und funktionierte. Die Ausbildung machte mir zwar immer noch Spaß, jedoch wollte ich mich nicht nur mit Material, Gestaltung und Handwerk auseinandersetzen, sondern vermisste Inhalte in meinem Leben. Ich wollte mehr lesen und lernen. Diskutieren, Verstehen, Fragen formulieren… Schade, die Klarheit, die ich zu Beginn der Lehre für mich und meine Lebensplanung und Vorstellung von Lebensführung erlebt hatte, schwand und schwand. Ich hatte nicht genug, ich bekam nicht genug.

Die Lehre schloss ich mit Auszeichnung ab und verließ die kleine Stadt, endgültig nun auch die Jugendarbeit, um zu meiner besten Freundin in die Großstadt zu ziehen. Hier war ich schon viel zu Besuch gewesen, hatte mich immer wohl und voll und ganz angenommen gefühlt. Und hier wollte ich nun endlich die Essstörung hinter mir lassen und mich der Kunst ganz zuwenden, eine Mappe erarbeiten, um mich für ein Kunststudium zu bewerben. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich jemanden kennen gelernt, den ich sehr aufregend fand und dessen Interesse und Bewunderung mir sehr schmeichelte. Ein weitgereister, eigensinniger Typ, attraktiv und mit sehr klaren Ansichten und Vorstellungen von „richtig“ und „falsch“, die ich prinzipiell teilte.

Nach dem ersten halben Jahr des freien, künstlerischen Arbeitens und interessanten, anregenden Studentenleben in einer großen Hausgemeinschaft, hatte mich die Bulimie dennoch fest im Griff. Ständig war ich mit meinen Selbstzweifeln konfrontiert, mit meinem ewigen Vergleichen zu anderen, mit meiner ewig empfundenen Unzulänglichkeit in allen Lebenslagen. Meine Reaktion auf all dies „Nicht-gut-genug“ waren selbstzerstörerische Essanfälle, ich wollte mich wirklich am liebsten tot fressen und kotzen. Ich kam nicht weiter und suchte mir endlich eine Therapeutin.

Nun begann die nächste Phase meiner Essstörung: die „Therapie macht mich gesund und schlank und mein Leben endlich heile“-Phase. Endlich suchte ich mir Hilfe. Einmal die Woche ging ich zur Verhaltenstherapie und es begann mir zu dämmern, das die Essstörung nicht meine „Schuld“ war, sondern mir etwas sagen wollte. Aber was? Der schmerzhafte Blick auf meine Kindheit und auf meine Mutter brachten viel Klarheit. Doch die Bulimie blieb. Mal mehr mal weniger. Es wurde ein Klinikaufenthalt vereinbart, auf den ich hoffend schaute. Endlich Verantwortung abgeben dürfen.

Der Antrag lief, das Leben ging derweil weiter. Ich wurde an der Kunsthochschule angenommen. Es folgte ein Umzug. Ein Traum ging in Erfüllung, ich fühlte mich bestätigt, doch auch – war ich wirklich talentiert genug? Ich hatte das Gefühl mich erst beweisen zu müssen, bzw. Angst schließlich doch entlarvt zu werden: „Nun, sie war ja sehr fleißig, aber Talent? Nein, Talent hat sie keines.“ dröhnte eine imaginäre Stimme in meinem Kopf. Irgendwann würde ich entdeckt werden.

Die Beziehung intensivierte sich. Von der Bulimie erzählte ich erst nach neun gemeinsamen Monaten. Schließlich hatte dieser Mann mir schon am Anfang unseres Kennenlernens von seiner „anstrengenden“ Ex erzählt, die selbst an Bulimie litt und mit der er Szenen erlebt hatte, die wirklich abschreckend klangen. Szenen in denen sie völlig außer sich geraten war. Niemandem gegenüber hatte ich je so die Kontrolle verloren. Mein Problem war mein Problem und von meiner besten Freundin und meiner Therapeutin abgesehen, wusste niemand davon. Es hat also lange gedauert, bis ich das Vertrauen entwickeln konnte, ihm von meinem eigenen Problem mit dem Essen zu erzählen. Ich weiß noch, wie wir spazierten und ich es kaum heraus bekam und er mich anschließend umarmte und hoch hob und wie ich nur dachte „– oh Gott, jetzt prüft er, wie schwer ich bin“ und mich schrecklich schämte.

Diese Selbstunsicherheit habe ich seither noch immer nicht abzulegen vermocht. Ein ewig nagender Zweifel „nicht-gut-genug“ zu sein und Nähe zu vermeiden:„wenn man mir zu nahe kommt, entdeckt man meine Schlechtigkeit, meine Schwächen und dann ist es aus!“ begleitet mich noch immer viel zu oft. Und wenn ich mich doch mal gezeigt habe, zerfließe ich hinterher vor Scham. Wir blieben zwei Jahre zusammen und er hat mich unterstützt, so gut er es vermochte. Aber ich habe ihn, obwohl wir zeitweise zusammen wohnten, viel auf Abstand gehalten und er mich, so dass wir eigentlich eine sehr oberflächliche Beziehung führten. Er machte sich keine Mühe mich zu verstehen und ich ließ ihn in Ruhe.

Im ersten Semester an der Kunsthochschule kam es schließlich zum Zusammenbruch. Die ständige Konfrontation mit meinen Zweifeln und dem Vergleich, die fehlende „Gut“-“Schlecht“-Messlatte in der freien Kunst und das frei strukturierte Studium überforderten mich völlig. Wie konnte ich hier bestehen, ohne Ahnung, wie ich es „richtig“ machen konnte? Ich war durch die nun drei Jahre bestehende Ess-Brech-Sucht körperlich, geistig und seelisch so geschwächt, ich knickte total ein. Ich ließ mich not-einweisen und begann zum ersten Mal wirklich hinzusehen, wie es mir ging, was mich beschäftigte, wo ich stand. Ich begann zu schreiben. Tagebücher über Tagebücher. Und über ein halbes Jahr, in dem ich krank geschrieben war, gelang es mir endlich clean zu bleiben. Ich war euphorisiert und hoffnungsvoll.

Während des darauffolgenden drei-monatigen Reha-Aufenthaltes nahm ich zudem auch noch ab und hatte endlich mein Traumgewicht erreicht – ohne bewusst abnehmen zu wollen, so bildete ich mir ein. Jedoch, als sich die Zeit in der Reha dem Ende zu neigte, hatte ich einen ersten Rückfall, den ich als fatal und hochdramatisch empfand. Es half alles nichts. Die ganze Arbeit an mir selbst und ich wurde trotzdem nicht „heile“, nicht „gut“, nicht „richtig“.

Was ich erst später realisierte: auch in der Reha hatte ich nur meinen Therapeutinnen von meiner Bulimie erzählt. In Gruppensitzungen immer die anderen erzählen lassen und regen Anteil an deren Geschichten genommen, anstatt auch mich zu zeigen und wichtig genug zu nehmen, besprochen zu werden. Niemand wusste weswegen ich da war. Nur das es um Essstörungen ging. Und mein Essverhalten blieb gestört. Ich war nie zufrieden, immer mäkelig und vorsichtig bedacht „das Richtige“ und genug vom „Richtigen“ zu bekommen und mir dann auch noch was zu „gönnen“. Ein peinliches Gewese am täglichen Klinikbuffet, empfinde ich nun rückblickend. Aber die Erfahrung rundum versorgt zu sein, war nun einmal absolut neu für mich. In meiner Kindheit war ich immer unter „ferner liefen“ verhandelt worden. Dosensuppe und Joghurtsnacks. Viel Obst, aber was, wann und wie viel blieb völlig mir und ich mir im übrigen genauso, selbst überlassen. Und ich aß meistens allein.

In der Klinik erlebte ich zum ersten Mal den Luxus „nein“ zu mir angebotenem Essen sagen zu können. Weil klar war, das es einige Stunden später wieder etwas Neues, für mich immer toll, geben würde. Zwar setzte ich mich hier mit den Ursachen und dem Antlitz meiner Essstörung auseinander, jedoch stand ich hiermit gerade einmal am Anfang.

Ein Thema in meinem Leben ist Stabilität von außen, die meine Mutter mir nicht geben konnte und die ich mir später selbst nicht zu geben vermochte, sondern sie immer im Außen suchte.

Mit der Ausbildung, dann durch die Therapien und erst jetzt schrittchenweise durch das Lernen, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und anders zu erfüllen, als mit dem „Safe-Happy-Maker“ Essen. Ich kenne von jeher rapide Stimmungsschwankungen, von himmelhochjauchzend zu zu Tode betrübt. Dazu depressive Episoden, Momente, die zu Tagen und Wochen wurden, in denen mir mein Leben verfehlt und sinnlos und leer erschien, in denen ich mich schämte und verkroch.

Warum habe ich es mir jahrelang so schwer gemacht? Ich habe mir so selbst im Wege gestanden, immer etwas anderes gewollt, als ich eigentlich schon hatte und konnte nie mit mir zufrieden sein. Ich glaubte, ich müsste immer kämpfen. Mich verbessern, mein Bestes geben, noch besser werden. Und erst dann habe ich ein Recht auf Glück.

Nach der Reha kam ich insgesamt gestärkt in mein angerissenes Leben zurück. Meine Mutter machte sich nun, da ich so dünn war ENDLICH wirklich Sorgen um mich und ich verstand damit nun – wenigstens ansatzweise – woher die Krankheit kam. Dennoch erlebte ich die Hilflosigkeit meiner Mutter. Es war und ist so: sie wird mir nie das geben können, was ich als Kind und was ich jetzt noch als Erwachsene gebraucht hätte. Was mir dann aber endlich klar wurde: ich muss ihr aber auch nicht das geben, was sie von mir erwartet: nämlich uneingeschränkte Unterstützung. Mit der SICHTBAREN Essstörung, war ich endlich aus der Pflicht genommen und bekam von ihr etwas von der Aufmerksamkeit und Zuwendung, die mir gefehlt hatte, seit ich acht Jahre alt war. Damit hatte sich der Sinn meiner Essstörung ein Stück weit erfüllt.

Die Empfindung, das mich mein Freund auf Abstand hielt, bestätigte sich immer mehr. Die Arbeit, seine Familie, alles mögliche war wichtiger als ich. Schließlich fragte ich ihn, ob er mich liebe, denn ich liebte ihn sehr und war bereit, wirklich mit ihm zusammen zu sein, unser Leben zu teilen. Doch er konnte mir das nicht beantworten. Nach einiger Bedenkzeit, die er immer weiter in die Länge zog, stellte ich ihn zu Rede, er konnte sich immer noch zu keiner Antwort durchringen und ich trennte mich schließlich von ihm. Damit ging für mich etwas ganz Wichtiges zu Ende, aber ich war froh diese Entscheidung für mich getroffen zu haben.

Das Leben ist ja oft verrückt. Ganz kurz darauf lernte ich jemand Neues kennen und tatsächlich war das wohl der eigentliche Trennungsmoment. Zu spät kehrte sich mein Ex-Freund nun doch um, „entdeckte“ seine große Liebe zu mir, aber ich war schon weg. Und nun wurde es ein bisschen tragisch. Ich durfte zwei Monate lang eine Traumerfüllung erleben. Mit meinem neuen Freund glaubte ich all das gefunden zu haben, was ich mit meinem Ex-Freund vermisst hatte. Leichtigkeit, das Leben zusammen genießen, Romantik, Liebesbekenntnisse, vertrauensvolle und wunderschöne Sexualität, gemeinsame Reisen, Spiel, Poesie – aber auch mit ihm schaffte ich es nicht mich auseinander zu setzen. Wir konnten keine Konflikte austragen, ich hatte plötzlich Angst vor seiner Härte, seiner Missbilligung, seiner Missachtung – genau wie bei dem Ex-Freund zuvor. Eine schillernde Seifenblase platzte und völlig desillusioniert trennten wir uns nach drei Monaten.

Ich blieb total verunsichert und mit schrecklich gebrochenem Herzen zurück.

Die Bulimie kehrte mit dem Liebeskummer und dem Uni-Alltag wieder in mein Leben ein. Langsam aber stetig nahm ich zu, aß permanent zu viel, hatte immer weniger Freude an Bewegung. Die Gedankenschleife drehte sich erneut und wurde schwärzer und schwärzer und wieder war ich schließlich so hilflos und verzweifelt, das ich abermals Hilfe in einer Klinik suchte. Längst ging es mir nicht mehr darum „dünn“ zu sein. Ich wollte mich schlicht MIT MIR WOHL FÜHLEN, endlich. Aber ich fühlte mich total wertlos und überall fehl am Platz. Drei Monate blieb ich in der Klink, acht Wochen stationär, vier Wochen ambulant. Wieder kam ich gestärkt und stabilisiert, klarer für mich zurück in den Alltag. Ich wechselte den Studiengang Richtung Kunst auf Lehramt, weil ich mehr mit Menschen zu tun haben wollte.

Ich suchte nach der Klinik eine ambulante Therapie, fand niemand Passenden und auch schien es mir wichtiger, jetzt, mit 26, mein Studium endlich voran zu treiben, die anderen waren ja schon so viel weiter. Es gelang mir, die an mich gestellten Aufgaben mit mehr Leichtigkeit und Freude auszuführen, in dem ich den Druck raus nahm und nur solange dabei blieb, wie mir etwas wirklich Freude machte und mir dann erlaubte zu gehen. Die Ergebnisse waren viel besser und ich begann wirklich in meinem Studium aufzugehen. Dennoch blieb Essen mir die einzig verlässliche Stütze, um meinen Alltag und meine Emotionen zu stemmen und auszubalancieren.

Und hier stecke ich bis heute. Vier Jahre lang habe ich nun mal besser, mal schlechter mit der Krankheit GELEBT. Denn L E B E N, das wollte und will ich. Nicht einsam in der Klinik an meiner Vergangenheit kranken, sondern draußen in der Welt Erfahrungen machen, arbeiten, lieben. Anteil nehmen an der Welt. Und geben. Zum Teil ist mir das gelungen. Immer wieder habe ich mir dabei Hilfe von außen gesucht. Über den Online.Workshop von lebenshungrig.de, Seminare in gewaltfreier Kommunikation und nicht zuletzt durch meine Mutter, die durch intensive Therapien, seit zwei Jahren trocken und so stabil ist, wie noch nie zuvor in meinem Leben und mir in den letzten beiden Jahren sehr viel weiter helfen konnte.

Allen Verbesserungen zum Trotz (der geklärten Beziehung zu meiner Mutter, meinem Verzeihen ihr gegenüber, der größeren Offenheit gegenüber meinen Stärken und Schwächen, der zunehmenden Akzeptanz meines Selbst) stecke ich immer noch in meiner Abhängigkeit vom Essen, stecke ich in meiner gewachsenen Angst vor Nähe, falle ich immer wieder in destruktive Gedanken und Handlungsmuster. Kann ich nicht los lassen. Kranke ich doch immer noch an meiner Vergangenheit. Nehme ich mich viel zu sehr als Opfer wahr, anstatt wirklich Verantwortung zu über nehmen.

Ja, ich glaube ich bin immer noch ganz schön wütend über meine besch***ene Kindheit, meinen Vater, der einfach abgehauen ist und sich dann tot gefahren hat, bevor ich ihn habe besser kennen lernen können. Wütend auf den Alkohol, der meine Kindheit und Jugend zersetzte, wütend auf die Gesellschaft, die mir das Gefühl gab mich immer beweisen zu müssen, immer schön sein zu müssen und stark und ausgeglichen und eigenständig und unabhängig. Wütend auf mich selbst, das ich trotz all der Therapien den Dämon nicht zu zähmen vermochte, der nicht Essstörung heißt, sondern Minderwertigkeitskomplex. Wütend, das ich es noch immer nicht schaffe, geduldig zu sein und demütig und dankbar für die Dinge, die ich habe, sondern das ich immer noch mehr will und dabei ständig in Vergangenheit und Zukunft verharre. Wütend, das ich nicht begreife, was ich an mir habe. Wütend, das es mir nicht gelingt mich auf Wichtigeres zu konzentrieren, als auf meine eigene, trübe Suppe. Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Flüchtlingshilfe. Nein, ich schaue auf meine Beine, meinen Bauch und meine Hüften, meine weiblichen Formen und mir wird schlecht und hier hänge ich mich schön auf, hier sind meine Gedanken in Sicherheit, diese Schleife kennen sie und sie sind geschützt – vor dem Unbekannten. Dem Möglichen. Der Verletzung. Dem das alles GUT SEIN KANN – und ich mich dem Leben stellen muss.

Ich habe viele Freunde. Nur wenige wissen, warum genau ich so oft in Therapie war. Besonders meinen Mitbewohnerinnen möchte ich es nicht sagen. Ich schäme mich abgrundtief.

Aber ich spüre, das ich in vielem auf einem sehr guten Weg bin. Zwar habe ich über die letzten vier Jahre jene 10 Kilo zugelegt, die ich seiner Zeit so mühsam ab trainiert und ab gehungert und schließlich ab-gekotzt hatte, dafür fühle ich mich viel kraftvoller und beweglicher. Und ich habe immer weniger Stress mit dem Essen. Nichts ist mehr verboten. Kalorienzählen kommt mir nicht mehr in den Sinn. Angstfreier Genuss ist möglich. Sport mache ich nur aus Spaß.

Mittlerweile breche ich nur noch sehr, sehr selten. Es gelingt mir mehr und mehr nachhaltig gesunde Verhaltensmuster in meinen Alltag zu verankern. Dazu gehören Tagebuch-Schreiben, morgendliches Meditieren, moderates Bewegungsprogramm, Yoga und MILDE. Ich versuche geduldig zu sein und Wege zu finden mit meiner Frustration über das Fehlen einer Partnerschaft, meiner tickenden biologischen Uhr und dem weiterbestehenden Selbstzweifel gesund und positiv umzugehen. Nicht einfach. Aber möglich. Und ich glaube fest, das ich es schaffen werde, die Bulimie ganz aus meinem Leben zu entlassen. Das mag noch ein langer Weg sein und vielleicht werde ich mich noch einmal auf eine Therapie einlassen müssen. Vielleicht aber ist alles, was ich zum Gesunden brauche, eigentlich schon da: ein milder Blick auf mich selbst, die Bereitschaft jederzeit für mich da zu sein und der Glaube an meine Kraft, meinen Mut und meine Stärke.

Ich bin sehr dankbar für das Format „lebenshungrig“, weil ich hier immer wieder mit Themen konfrontiert werde, die mich wieder hin sehen lassen, die Ja sagen zum Leben auch mit seinen dunklen Seiten, die mir Mut machen zu mir selbst zu stehen und mein Schneckenhaus zu verlassen, Neues zu wagen, im Hier und Jetzt zu sein und die Essstörung endgültig hinter mir zu lassen.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone