Die vierzehnte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte für uns aufgeschrieben hat:

Ich hab mich grade sehr kurzfristig und spontan entschieden meine Geschichte aufzuschreiben.

Eine Geschichte, die ich noch nie jemandem erzählt habe….

Ich komme aus einer sogenannten „perfekten Familie“. Meine Eltern haben sich schon als Teenager kennen gelernt, meine wunderschöne Mutter und mein beruflich sehr erfolgreicher Vater. Meine Mutter ist wirklich eine sehr schöne Frau, wenn ich sie ansehe wird mir manchmal ganz schwindelig, weil es scheinbar so ungerecht ist, dass ich so wenig von ihren guten Genen abbekommen habe. Ich komme also aus einer Bilderbuchfamilie. Eine hübsche Mutter, ein sehr erfolgreicher Vater, einen süßen kleinen Bruder, keine Geldsorgen.
Mein Problem seit mehr als zehn Jahren? Wie beeindruckt man Eltern, die alles haben? Wie macht man sie stolz?

Seit Beginn der Pubertät quält mich die Angst, nicht gut genug zu sein für meine Familie. Ich bin nicht so hübsch und nicht so schlank wie meine Mutter. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht vorstellen, jemals so erfolgreich zu werden, wie es mein Vater heute ist.

Als ich so ungefähr zwölf Jahre als war, lag ich mit meinem Bruder morgens bei meinen Eltern im Bett. Meine Mutter schickte uns auf die Waage, die immer im Schlafzimmer meiner Eltern stand. Ich war damals schon ziemlich groß für mein Alter und wog entsprechend viel, aber ich war wirklich nicht dick. Trotzdem wunderten sich meine Eltern über das „hohe“ Gewicht. Nach eingehender Beratschlagung einigte man sich darauf, dass ich wohl einfach schwere Knochen haben müsste. Für meine Familie war das Thema damit erledigt, doch ich fing erstmals an, mir Gedanken um mein Gewicht und meinen Körper zu machen.

Ich las im Internet alles über gesunde Ernährung was ich finden konnte und ich fand im Bücherregal meiner Eltern ein Buch übers Laufen. Ich fing an mich gesünder zu ernähren und zu joggen. Sehr schnell lief ich anderthalb bis zwei Stunden jeden Tag, bei jedem Wetter, manchmal auch zweimal am Tag. Da gesunde Ernährung in meinem Elternhaus sehr schwierig war, fing ich einfach an, weniger zu essen. Ich vermied Essen, wo es möglich war. Ich wurde magersüchtig und sportsüchtig.

Meine Eltern bekamen parallel Eheprobleme, sie hatten weniger Zeit, zogen im Wechsel bei uns zu Hause ein und aus Und ich wurde sehr schnell sehr dünn. Ich bekam viel Aufmerksamkeit dafür, sowohl in der Schule als auch zu Hause. Endlich hatte ich das Gefühl hübsch zu sein, gut genug zu sein, stark zu sein. Endlich passte ich zu meiner Familie. Ich wurde dünner und dünner und schwächer. Trotzdem hielt ich an meiner Magersucht fest. Sie war das einzige, was mich ausmachte. Ohne sie war ich nichts.

Schließlich kippte ich im Sportunterricht um. Meine Lehrer schalteten sich ein und auf einmal wurde ich von allen Seiten bedrängt eine Therapie zu machen. So begann ich gegen meinen Willen eine Therapie zu machen. Der Therapeut war furchtbar, er nahm mich und meine Probleme nicht ernst, hielt alles für eine Phase der Pubertät. Ich war zu diesem Zeitpunkt so erschöpft und kraftlos, dass ich wieder anfing zu essen. Später stellte ich auch mein exzessives Sportprogramm ein. Ich nahm zu. Ich wurde normalgewichtig, ich wurde pummelig. Ich kam nicht damit zurecht. Ich trauerte meiner alten Figur hinterher. Ich fühlte mich unwohl, hasste meinen Körper, aber ich schaffte es nicht mehr abzunehmen.

Ich lebte vor mich hin, ich zog weg und fing an zu studieren und schließlich passierte es. Ich hatte einen schweren Unfall, denn ich nur knapp überlebte. Ich lag lange im Krankenhaus. Als ich wieder entlassen wurde, war ich auf einmal wieder sehr dünn. Von heute auf morgen. Und ich bekam auf einmal wieder sehr viel Aufmerksamkeit von allen Seiten. Es war wie früher. Mein sehnlichster Wunsch war wahr geworden. Ich erholte mich ein paar Wochen bei meinen Eltern.

Aber ich war auch schon immer sehr ehrgeizig, ich ging viel zu früh wieder zurück und studierte, als sei nichts weiter passiert. Ich schrieb in einer Hauruck-Aktion alle Klausuren mit, obwohl ich monatelang nicht in der Uni war. Ich lernte zehn bis 15 Stunden am Tag. Ich bekam Panikattacken und extreme Ängste zu versagen. Essen war auf einmal mein geringstes Problem. Zum ersten Mal drehte sich nicht alles um Essen und Gewicht. Ich konnte nicht mehr Essen, die permanente Panik drehte mir den Magen um. Die Angst wurde ein ständiger Begleiter.

Ich wurde depressiv und kam manchmal tagelang nicht aus dem Bett und ich wurde wieder erschreckend dünn. Dünn zu sein gefiel mir. Ich hatte immer noch das Gefühl, ein Traum sei wahr geworden. Endlich und wie von heiterem Himmel wieder dünn. Aber irgendwann ertrug ich die Panik nicht mehr. Ich nahm die psychologischen Beratungsangebote der Uni in Anspruch. Ich begann eine Therapie und verarbeitete den Unfall. Meine Therapeutin ahnte, dass ich eine Essstörung hatte, aber ich verschwieg es eisern. Ich überwand das Trauma, fand aber keinen Mut meine Probleme mit dem Essen anzusprechen.

In dem Maß, in dem die Depressionen und die Panik verschwanden, kam die Essstörung wieder. Es fing alles von vorn an. Ich nahm wieder zu. Aber diesmal versuchte ich mich zu wehren, ich reglementierte mein Essen. Zu diesem Zeitpunkt bekam ich erstmals Fressanfälle. Anfangs glich ich diese aus, in dem ich mich am nächsten Tag extrem gesund ernährte bzw. extrem wenig aß. Ein Kreislauf aus Fressen und Hungern fing an und wurde immer stärker.

Relativ schnell wurde mir bewusst, dass ich was gegen das Fressen tun musste, anfangs trieb ich Sport, aber irgendwann wurden die Fressanfälle so groß, dass ich etliche Stunden am Stück hätte laufen gehen müssen um die Kalorienzufuhr auszugleichen. Also fing ich an zu kotzen. Anfangs war ich nicht besonders gut darin, es fiel mir schwer. Mit der Zeit wurde es leichter und ich machte es immer öfter. Sehr schnell erbrach ich mehrmals täglich. Ich verlor das Gefühl für Mahlzeiten und hörte schließlich komplett auf nach Mahlzeiten zu essen. Für mich gab es nur noch Hungern, Fressen und Kotzen. Ich zog aus meiner WG aus um ungehindert Fressen und Kotzen zu können. Dünn wurde ich nicht, im Gegenteil ich wurde dicker und dicker und kotze öfter und öfter. Fast ein Jahr lang erbrach ich mehrmals täglich, konnte mir einen Tag ohne kotzen nicht mehr vorstellen.

Schließlich kam ein Feiertag und ich fand keine passende Ausrede, um nicht zu meiner Familie zu fahren. Bei ihnen angekommen, bekam ich auf einmal einen ganz schrecklichen Heulkrampf, ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Ich bekam mich den ganzen Abend nicht mehr ein und schließlich erzählte ich meinen Eltern von meiner Bulimie. Ich gehe inzwischen seit einem dreiviertel Jahr wöchentlich zur Therapie und mein ganzes Leben hat sich verändert. Ich finde mich immer noch zu dick, obwohl ich es nicht bin und ich habe noch immer Angst, nicht gut genug zu sein. Ich weiß, dass noch viel vor mir liegt und dass es ein weiter Weg ist.

Aber ich weiß, dass ich es schaffen werde. Nur für mich.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone