Die vierundfünfzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Hier teilt ein mutiger Mann mit einer essgestörten Partnerin seine Geschichte mit uns:

Liebe Simone,

mit diesem Schreiben möchte ich dir das Zusammenleben mit meiner Partnerin, wie ich es erlebe, schildern. Mein Alter ist 48, das meiner Freundin 46, sie leidet seit 30 Jahren an einer Essstörung.

Meine Geschichte nenne ich:

Bulimie ist eine Blume, die niemals blüht.

Nach dem Scheitern einer langjährigen Beziehung habe ich zwei Jahre versucht mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, meine Sehnsucht besser kennenzulernen, mich selbst zu sehen, meine ganz eigene Liebe zu definieren, die Welt als Ganzes wahrzunehmen.

In dieser Zeit bin ich gereist, habe gelesen, geschrieben und gemalt. Ich habe mein Grundvertrauen in die Welt bewahrt und gefestigt, Liebe ist ein großes Wort, Liebe ist allumfassend.

Ist nicht die natürlichste Form der Liebe die zwischen Mann und Frau? Das Verschiedensein nicht ein Aufruf du mögest wachsen an mir? Das zärtliche Herantreten an den anderen ein Vertrag: du bist gut und ich bin gut? Sind es nicht Kleingeister die sich kraftlos in die Arme nehmen und Liebesbezeugungen zusäuseln die sie nicht halten können? Oder duldet wahre Liebe keine Erwiderung und nährt sich am Zuwachs von Sehnsucht?

Doch dann standest du vor mir mit großen Augen, ich schau hinein wie durch Fenster, sehe kindliche Liebe, bedingungslos, diese Liebe ist Wahrheit, Wahrheit ist Frieden, Frieden ist Erlösung. Ich nehme dich in die Arme und lass nicht mehr los, du suchst das Leben? Glaub mir, manche werden geschüttelt, andere getreten, der eine müht sich, der andere muß nur winken, spielt keine Rolle. Wir schöpfen alle von der gleichen Quelle. Den einen berauscht es, der andere erbricht.

Und irgendetwas hat mich gewarnt: kannst du das? Bist du groß genug? Verträgst du Leid? Das was der Menschheit nicht gelingt, dir im Kleinen?

Ja, ich will!

Wir kennen uns nun fast fünf Jahre, und ich kann meine Tränen nicht mehr halten, sie tropfen auf die Tastatur und ich red mir nur ein, „keine Angst“, denn sie fühlen sich warm an, glitzern und funkeln und schmecken wie das Meer.

Du bist meine Prinzessin, du bist Schneewittchen, ich bin alle Zwerge in Einem, doch das macht mich nicht größer, ich bin the dolphin and the shark, every part.

Die ersten Wochen hast du nur geweint in meinen Armen, wir wie zwei Kinder die einem Erdbeben trotzen. Ich sehe dich, du bist golden unter schwarzem Tüll, ich fühle dich, zeichne imaginäre Linien auf deinem Körper nach, die mir grün wie Phosphor leuchten, ich höre dich ‚Aphrodite‘, im Trommelwirbel herabsteigen vom Olymp. Doch meine Worte trösten nicht.

Ich sage dir: „das empfinde ich so, das berührt mich stark, das kränkt mich, das macht mich traurig, das wünsche ich mir, das kann ich nicht, das verstehe ich, das erlebe ich anders, da sehe ich einen Zusammenhang…“ Es erreicht dich nicht, Speisung ist deine einzige verfügbare Quelle nährender Fürsorge, der rein physikalische Akt verwandelt sich in deinem Kopf in emotionale Wärme. Du kontrollierst auf diese Weise was in dein Wesen rein und wieder heraus darf.

Ich erkläre dir, Bulimie hat dir das Leben gerettet indem sie dich von der Unberechenbarkeit menschlicher Gefühle unabhängig gemacht hat als du die Liebe deiner Mutter nicht spüren konntest. Bulimie ist wahre Liebe, doch als sie überflüssig wurde war sie schon so vertraut und lieblich das du sie mit Alkohol schützen mußtest um das Terrain nicht zu verlieren auf dem du dich sicher bewegst.

Ich habe um Hilfe gebeten, nein, geschrien, hilfe, mein Herz und meine Seele, hilfe, ich verliere mich. Hilfe! Hilfe, dies ist nicht die schöpferische Kraft der Melancholie.

Ich weiß nicht was du mir sagen willst, nicht das was du sprichst. Ich weiß nicht mehr was geschieht. Hilfe, du tust mir weh, geh nicht wenn ich weine, sage nicht ich bin bös, empfinde meinen Kampf nicht als Krieg gegen dich.

Alk ist dein Dämon und kontrolliert deinen Geist, drum merkst du nicht, Bulimie ist unser gemeinsames Kind. Ich bin bei dir und spüre wie nachts unsere Seelen einander berühren. Du schreist mich an, denn ich habe Fehler gemacht, doch ich muß mich wehren wenn dein Dämon mich frech angrinst. Ich sehe dich auch jetzt wenn du auf dem Dorffest trinkst, scheinbar die fröhlichste Frau der Welt, wenn du dein Selbstwert erhöhst indem du mit Männern herumturtelst.

Meine Verbindung zu dir ist mir sichtbar als roter Faden durch die Luft. Meine Liebe ist der größte Feind deiner Essstörung, nicht der von dir. Dein Planet ist sonnig und schön, seine Bäume rauben kein Licht, sie spenden Schatten. Ich schüttel dich wie den Baum um an die schönsten Früchte zu kommen. Ich habe einen Plan, doch du unternimmst nichts, denn er macht dir Angst, du wirst daran sterben um neu geboren zu werden.

Meine Gedanken sind wie ein Ball, er kann die Mauer nicht durchdringen, nicht hindurchdrücken, nicht übersteigen, nicht untergraben, nicht daran vorbeigleiten. So stark ich auch werfe, immer wieder, immer höher, immer fester, immer verzweifelter. Er nutzt sich nur ab. Siehst du nicht, das ist der Teil von mir an dem ich noch schroff und kantig bin? Ich schenke dir von meiner Identität und Autonomie. Du willst mir Spiegel sein, ich dir Fenster!

Nimm nicht Behausung im Zorn, sie hält nicht lange warm. Geh zu deinem lieben Mann und vertraue ihm. Bulimie hat dir die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit aufrecht erhalten, die von den meisten Menschen durch Argwohn ersetzt wurde, eine Botschaft, in Wahrheit ein großes Geschenk, auch jetzt, denn was ist die Zeit? Deine Wut auf dich selbst richtet sich gegen mich. Rationalität hast du vollständig verbannt.

Und meine Liebe? Quillt über, ungenutzt, und versickert leise und traurig im Sand.

Willst du Blumen auf dein Grab?

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone