Bulimie statt Gefühle – reingefressen und ausgekotzt

Hier ein weiterer Erfahrungsbericht, den mir eine Workshopteilnehmerin geschickt hat: 

(D)eine Geschichte

Wie ist es möglich, mir selbst jahrelang etwas vor zu machen? Diese Frage stelle ich mir  oft. Ich habe jahrelang den Großteil meiner Gefühle, die, mit denen ich nicht umgehen konnte, einfach weggefressen. Durch einen Zufall kam ich auf die scheinbare geniale Idee, all dieses Essen wieder zu erbrechen. Das diese „Idee“ den Namen Bulimie trägt und das ich nicht die einzige bin, die auf diese scheinbare Genialität hereingefallen ist, erfuhr ich erst viel später.

Zunächst aber genoss ich die Essstörung, denn ich brauchte scheinbar auf nichts mehr zu verzichten. Und mit dem Abnehmen funktionierte es auch endlich. Ich hatte schon immer Probleme mit meiner Figur und irgendwie drehte sich alles nur um mein Aussehen.

Anfangs konnte ich die Bulimie noch bewusst einsetzen, erbrach nur selten. Und dann ging es immer leichter und ich tat es immer häufiger. Die Bulimie hatte mich längst im Griff, bevor ich es auch nur erahnte. Irgendwann kotzte ich vier bis sechs mal täglich und war körperlich und psychisch am Ende. Ich hasste und verachtete mich und ich isolierte mich mehr und mehr.

Reingefressen und ausgekotzt

Mehr als fünf Jahre habe ich mein Essproblem geheim gehalten. Weder mein Mann noch meine drei Kinder haben etwas davon bemerkt. Ich wollte einfach nicht sehen, dass die Bulimie längst mein Boss war. Hatte ich Stress, Frust oder Angst griff ich zum essen. Aber auch die positiven Gefühle konnte ich häufig nicht aushalten.

Heute ahne ich, dass das Essen bzw. die Störung nicht mein eigentliches Problem ist.  Es ist die Beziehung zu meinem Mann, die Überforderung mit den Kindern, das Unglücklichsein über die fehlende Berufsausbildung, das scheinbare Nicht-Vorhandensein einer Perspektive.

Ich bin bei anderen sehr beliebt, verträglich, habe für jedes Problem ein Ohr und eine Lösung, nur für meine eigenen nicht. Dafür ist die Bulimie zuständig. Ich kann mir meistens noch nicht anmerken lassen, wie sehr es in mir qualmt und brodelt, wie sehr mich manche Dinge, Personen und Gegebenheiten ankotzen.

Vor einigen Monaten war mein Leidensdruck so groß, dass ich etwas gegen die Bulimie unternehmen musste. Ich fühlte mich dem Tod näher als dem Leben und spürte plötzlich, das ich leben wollte. Ich fand lebenshungrig.de und habe mich zum Workshop angemeldet. Außerdem beginne ich in einigen Wochen eine Therapie. Dieser Bericht hier ist einer meiner ersten Schritte raus aus der Isolation.

Ich weiß, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe und dass mich die Krankheit noch ein Stück dieses Weges begleiten wird. Aber ich habe wieder Hoffnung. Ich glaube, dass die Bulimie auch von der Isolation und Heimlichkeit lebt und deshalb habe ich meine Geschichte hier aufgeschrieben.