Kathrins Genesungsweg Teil 15: Geht’s dir gut?

An der falschen Stelle sind Sie gut. An der richtigen Stelle geht es Ihnen gut.

Günter Gross, ein empfehlenswerter Autor und insgesamt beinahe weiser Mann, hat mir auch hinsichtlich meiner Essstörung sehr geholfen. Zwar richten sich seine Vorträge und Bücher vorrangig an Unternehmen im Wirtschaftssektor, besitzen aber ebenso allgemeingültige Weisheiten in Bezug auf so ziemlich alle Lebensbereiche.

Ein neu entdecktes Zitat lautet „Beenden Sie das Falsche. Werden Sie frei für das Richtige. Die Fähigkeit, an der falschen Stelle Vorzügliches zu leisten, ist kein Grund das auch weiterhin zu betreiben. An der falschen Stelle sind Sie gut. An der richtigen Stelle geht es Ihnen gut.“

Im Kern trifft diese Aussage auch auf meine frühere Essstörung zu. Ich konnte vieles leisten, ich habe mich „nur“ eben schrecklich dabei gefühlt. Häufig wissen essgestörte Frauen sehr genau, wo die Hebel der Probleme sitzen und kennen die theoretischen Auslöser, woran es liegt. Bei mir persönlich war das nicht so, ich tappte im Dunkeln, wollte mich „erst einmal formen“ und dann dahinter schauen. Und die Vorstellung etwas herzugeben und möglicher Weise an meinen Konstanten zu ändern, machte mir große Angst. Aber der Punkt an dem ich wusste, dass irgendetwas passieren muss, war angekommen, ich war nur ratlos in welche Richtung ich graben muss…

Interessant finde ich im Nachhinein unter dem Aspekt auch ein anderes Zitat: „Wo die Angst ist, da geht’s lang“ – denn häufig ist es nicht nur der Arbeitsplatz, die Beziehung oder bspw. eine Wohnform, von der man im Falle eines Falles loslässt, sondern damit verbundene Themen wie Angst, Trauer, Wut etc. um die es eigentlich geht, bekommen in dem Moment ein sehr konkretes Gesicht.

Bei mir ging der Prozess u.a. damit los, dass ich Wer wäre ich ohne mein Drama? Konfliktlösungen mit „The Work“ auf mein aktuelles Problem an einem Freitagabend inmitten meiner Überstunden anwandte. Ich hatte massive Angst meinen Job zu verlieren, die Kugeln flogen tief, man munkelte über mögliche Kündigungen, der Leistungsdruck wurde angezogen und obwohl ich wusste, dass man mich nicht entlassen würde, bekam ich eine richtige Arbeitsblockade. Ich versuchte was ich konnte, stellte die Möbel in meinem Kämmerlein um und wusste nicht wie ich reagieren sollte, als mir ein Gang aus dem Selbsthilfeprogramm LEICHTER wieder in den Sinn kam. Eigentlich wollte ich bloß meine Blockade lösen um noch besser, noch leistungsfähiger, noch belastbarer zu werden – aber die Methode kann zum Selbstläufer werden ☺

Die Umkehrung meiner Aussage „Ich verliere meinen Job“ war ausgesprochen aussagekräftig und höchst wirksam, lautet sie doch „Mein Job verliert mich“. Es waren viele weitere Schritte notwendig und es vergingen viele Wochen bis ich an den Punkt gelangte, auszuprobieren was ich wirklich wollte, aber der Satz hallte nach und brachte sofortige enorme Entlastung mit sich.

Auch war ein so genannter Freudscher Versprecher in einer Therapiestunde bemerkenswert, die ja nicht auf Deutsch sondern in der dortigen Landessprache stattfand, eigentlich sollte es „Angst von der Arbeit entlassen zu werden“ heißen und es wurde „Angst von der Arbeit befreit zu werden“. Der Gedanke erschien mir extrem frech, regelrecht unartig und ich weiß heute, dass es nicht nur um die Arbeit selbst ging, wie ich schon oft geschrieben habe, sondern ums Funktionieren in einem System, für das die Essstörungen bei mir ein geeignetes Ventil darstellten.

Sicher war ich „vorzüglich an der Stelle“, aber ohne Blick auf mich nützte meine Leistung nur anderen etwas, nicht mir selbst. Und genau dieses Selbst gilt es zu entdecken. Welche Punkte des Selbst werden mithilfe der Essstörung übertönt und welche Auseinandersetzung lohnt sich zu verfolgen. Mein neuer Weg, von dem ich in aller Ausführlichkeit im November hier berichten werde, stellt eine (äußerlich betrachtet) wesentlich höhere Angstquelle dar, aber da es mir an dieser Stelle „gut geht“, sind das nichts weiter als Äußerlichkeiten und Ängste, die ich händeln und mit denen ich leben kann.

Auf welche deiner Ängste lohnt es sich hinzuschauen und welches System hältst du mit deiner Essstörung am Leben?