Die fünfunddreißigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Hallo Essstörung, hallo Anorexie (Und hallo Bulimie?)

Meine Freundin, so soll ich dich nennen. Weißt du noch, wie du vor langer Zeit ein wirklich großer Teil von mir geworden bist? So heimlich, still und leise? Ahnungslos war ich, wusste nicht, dass wir uns jemals so nahe stehen werden und was du aus bzw. mit mir machst. Aus dem Nichts kamst du, hast dich angeschlichen und begleitest mich bis Heute. Jeden Tag, jeden Moment, jede Minute und jede Sekunde. Jeder Gedanke ist durchzogen von dir. Rund um die Uhr bist du in meinem Kopf. Eingenistet, mein zweites Ich.

Du willst nur mein Bestes, dass ich schön und dürr bin, denn du sagst, dass mich die Leute dann mögen und das es mir dann besser geht, dass ich mich wohler fühle, dass ich dann endlich jemand bin und man nichts negatives mehr über mich sagt. Die Meinung anderer interessiert dich sehr. Du willst nicht, dass sie schlecht über mich reden. Nie bin ich wirklich alleine, denn du begleitest mich Tag und Nacht. Verlassen und einsam bin ich nie wirklich, denn wenn die Leute weg bzw. nicht da sind, dann kommst du und tröstest mich.

Es ist wie ein Leben in einem Körper den wir uns teilen. Ein Körper in dem wir beide leben. Du hast mir zuerst gezeigt was Stärke ist. Stärke ist gut, denn daraus folgt Disziplin. Du bist stolz auf mich wenn ich diszipliniert bin, nichts oder nur wenig esse und abnehme, auf dem Weg, in ein nahezu perfektes und vor allem dünnes Leben. Ja, du motivierst mich auch dazu, viel Sport zu machen und nicht wie andere drinnen auf dem Sofa zu sitzen, oder etwas zu unternehmen. Perfektion heißt das Ziel in deinen Augen.

Viel vergleiche ich mich mit anderen. Du sagst mir was richtig für mich ist, denn dir vertraue ich voll und ganz. Anders scheine ich durch mein neues Auftreten zu sein. Ich werde beachtet, werde angesprochen und bekomme Komplimente. Ich habe wenige alte aber auch neue Freunde. Aber eigentlich brauche ich die doch gar nicht, denn ich habe doch dich?!? Solange ich auf dich höre verstehen wir uns gut.

Viele Geheimnisse haben wir beide. Geheimnisse, die niemand je erfahren darf. Du willst mich nicht gehen lassen und sagst, ich brauche dich, denn ohne dich, bin ich nichts. Ein dickes Nichts, das alle ignorieren, das von niemandem gemocht wird. Aber meinst du nicht, dass du mir sehr viel vorspielst?! Meinst du nicht, dass unser Leben eine Lüge, ein Leben undercover ist?

Du sagst, ich dürfe keine Gefühle zeigen, denn das zeigt Schwäche. Ich zeige auch keine Gefühle und wenn doch, dann nur selten oder wenn ich alleine bin und mich niemand sieht. Also brauche ich das jetzt auch nicht tun, oder?!? Aus Angst. Alle anderen Menschen verletzen uns eh nur, sagst du, also hältst du sie von mir fern. Es scheint so, als würden sie mich alle alleine lassen. Du lässt mich jeden Tag aufs Neue glauben und spüren, dass ich nicht geliebt werde und es verdient habe, dass ich alleine bin. Warum sollte ich auch wichtig sein?

Ich gucke mich im Spiegel an und sehe das Fett, die pure Hässlichkeit und glaube dir, dass ich zu dick und nichts wert bin, dass ich abnehmen und dünn sein muss. Du zwingst mich dazu, viel Sport zu machen, zu Hungern, zu leiden. Du willst mehr und mehr von mir, doch ich bin wie ausgebrannt. Du gibst mir jeden Tag das Gefühl zu versagen, steckst mir neue, immer höhere Ziele. Ich muss nach deiner Pfeife tanzen. Hungern soll ich. Abnehmen muss ich. Fasten kann ich. Erbrechen soll ich. Doch so funktioniert das nicht. Ich (fr)esse „zu viel“ und dann hasst du mich. Wir beide hassen das was ich getan habe. Wir beide hassen mich dafür. Ich bin zu blöd dafür. Auf geht’s Sport machen, Abführmittel nehmen, essen und erbrechen, wenig essen oder fasten und mich selbst verletzen.

Du sagst, ich würde zu viel essen, zu viel wiegen, zu dick sein, zu wenig schneiden, zu schwach sein. Du wartest doch nur auf den nächsten Grund um mich fertig zu machen. Du reitest mich immer tiefer und tiefer in den Teufelskreis hinein, lässt mich nicht mehr heraus. Ich hungere wieder, faste weiter, esse wenig und (fr)esse dann doch. Alles beginnt von vorne, der Selbsthass und manchmal auch der Wunsch sich selber aufzulösen und zu verschwinden. Du treibst mich schon manchmal in tiefe Verzweiflung und lässt mich oft weinen, weißt du das?

Es ist ein geheimes Versteckspiel. Nach Außen wirke ich normal, so als würde es mir „gut“ gehen. Doch so ist es eigentlich nicht. Niemand kann unsere Gedanken lesen, oder sind es meine? Meine Gedanken durch dich, oder doch ganz allein deine? Du lässt mir keine Luft zum Atmen, lässt mich bei den kleinsten Sachen verletzt sein. Ich ziehe mich zurück, habe keine Lust mehr auf alle, keine Lust auf gar nichts. Ich isoliere mich wegen dir von allem und ende dann oft verzweifelt, voll Hass, Angst, Traurigkeit und Tränen in den Augen.

Ich möchte erbrechen, wegen dir. Wie oft habe ich es versucht?!? Mein Körper wehrte sich lange dagegen, er wollte es einfach nicht. Nicht vor der Klinik und auch nicht in der Klinik. Doch du hast gesagt, dass es sein muss. Dann hat es funktioniert. Immer öfter und öfter, bis es zur „Regelmäßigkeit“ wurde. Die erste Zeit nach der Entlassung kam es wie gesagt gar nicht vor, dann ab und zu und in den letzten Wochen fast täglich. Ich war alleine, überfordert, hilflos. Ich bin zu doof fürs Abnehmen, zu doof zum Essen.

Es darf niemandem auffallen. Du sagst, dass keiner wissen darf, dass du da bist, dass keiner wissen darf was ich denke und fühle. Nie. Als Bestrafung lässt du mich schneiden, mich schlecht fühlen, weinen, mich bewegen. Du sagst, dass wenn ich das was du willst schon nicht schaffe, dass ich dann wenigstens einen Denkzettel verpasst bekommen muss. Wenn ich schon nicht abnehmen und auf dich hören kann, dann muss ich mit deinen Konsequenzen leben. Weißt du eigentlich, dass du mich mit all‘ dem irgendwann umbringen könntest?! Aber das ist mir durch dich mittlerweile „egal“.

Du lässt mich das ganze aushalten, lässt mich handeln und denken, als wenn ich ferngesteuert wäre. Ich schneide, esse, faste, erbreche und danach ist die Sache regelrecht „gegessen“. Doch mittlerweile ist das alles mehr geworden als nur eine Bestrafung, eine Art und Weise zu leben, eine Krankheit, ein Lösungs- bzw. Ausweg oder einfach nur „simple“ Handlungen. Du lässt mich immer an all‘ das denken, wenn irgendwas nicht klappt in meinen Leben. Wenn ich Druck in mir spüre, zugenommen habe, negativ denke, alleine bin oder einfach nicht weiß wo mir der Kopf steht.

Denn wo keine Tränen an meinen Wangen hinunter laufen, da „läuft“ das Blut am Arm, anders herum, oder beides. Wo die Angst und die Vorwürfe siegen und das Essen wieder raus kommt. Oder du lässt mich nichts essen und auch nichts trinken, willst, dass es mir dann nicht gut geht. Hast du dich auch nur einmal gefragt wie es ist zu glauben, nicht gebraucht zu werden? Aufzustehen und zu hoffen, dass die Waage freundlich ist, weniger anzeigt, du abgenommen hast und dünner bist? Hast du nur einmal daran gedacht wie es ist, „ohne“ Freunde zu leben und keinen wirklich in der Nähe zu haben der neben dir steht, dich in den Arm nimmt und dir sagt, dass alles wieder gut wird? Du lässt fast niemanden an uns heran, machst mein Leben zur Hölle.

Wie ist es wohl wenn man sich fragt, was das Leben so überhaupt noch für einen Sinn hat?!? Sich zu fragen was man noch alles machen, was noch alles passieren muss, damit man an dein Ziel kommt? Sich zu fragen wann das alles ein Ende hat?!? Nach Außen vermittelst du mir und allen anderen ein falsches Bild von mir. Ich fühle mich zu dick, hässlich, unverstanden, einsam und denke, dass kaum jemand richtig zuhört was ich genau sage, mich keiner wirklich versteht oder mir glaubt wie kaputt und zerrissen ich mich meistens fühle. Aber wie sollen es alle andere erfahren, wenn du immer wieder den Vorhang zu ziehst?!? Mich nach Außen kontrolliert scheinen, mich eine Maske tragen und mich heimlich, Stück für Stück zu Grunde gehen lässt und mich innerlich zerreist?!?

Ich frage mich oft wieso es dich gibt. Wieso du mich so fühlen, leben, denken und handeln lässt. Ich bin nicht mehr ich. Habe verlernt richtig zu leben. Kann nicht richtig essen, nicht ehrlich lachen, nicht ich sein. Du hast mich verändert. Du hast alles verändert. Du zerstörst mich, mein Leben, meinen Alltag, meine Ausbildung, meine Ziele, meine Wünsche und meine Träume. Alles. Du nimmst mir sehr viel mehr, als du mir gibst und trotzdem überwiegt oft das was du mir gibst, da die Bedeutung meistens größer ist. Und trotzdem nehme ich deine negative, alles beherrschende Macht war.

Ich will leben, hörst du?! Ich will mein Leben leben, hörst du?! Ich will mich akzeptieren, lachen, Spaß haben, normal und mit Freude/Genuss essen und einfach ich sein können. Ich will mein Leben wieder haben.

Ich weine zu oft wegen dir und weiß nicht, was ich denken oder machen soll und das nur, weil du dich in mir ausbreitest. Ich habe keinen Platz mehr für andere Dinge in meinem Leben. Du lässt mich immer in die falsche Richtung denken und Handeln, aber das will ich nicht mehr. Ich will weder depressiv noch essgestört sein. Alles was für mich möglich ist werde ich tun, damit es anders und besser wird und du hoffentlich für immer aus meinem Leben verschwindest.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone