Die neunte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich bin 44 Jahre alt und meine Geschichte beginnt im Alter von 14 Jahren, mitten in der Pubertät.

Ich war nie sonderlich schlank, aber auch nicht dick, gut gebaut und frühreif trifft es eher. Meine Eltern waren Alkoholiker und meine Mutter starb, als ich 9 war. Ich bin ein Einzelkind und mittlerweile lebt von meiner Familie niemand mehr. Mein Freundeskreis besteht aus 3 Personen, die mir sehr viel bedeuten und denen ich vertrauen kann und die für mich da sind. Viele Bekannte habe ich mittlerweile aufgrund meiner schlechten Erfahrungen mit Menschen auch nicht mehr.

Meine Bezugsperson damals war mein Vater, der sich aber nicht wirklich für mich interessiert hat. Auch in Punkto Essen hat er meistens das gekocht, was ihm geschmeckt hat, und entweder habe ich das gegessen oder eben nicht. Da er berufstätig war, hat er nur am Wochenende gekocht und unter der Woche musste ich mich selbst verpflegen. Es war angedacht, dass mein Vater mir jeden Tag 5 DM hinlegen sollte, damit ich mir in einem Warenhausrestaurant ein Menü bestellen konnte. Doch oft lag kein Geld da und ich war hungrig, also habe ich das gegessen, was ich daheim gefunden habe, und zwar meistens Süßigkeiten, Brot mit Margarine und Zucker oder wenn es keinen Belag für das Brot gab, habe ich das Brot in Öl gebacken. Ein gemeinsames Essen mit meinem Vater, zu welcher Tageszeit auch immer hat es nie gegeben.

Meine Großeltern wohnten 150 km weiter weg. Die waren also auch nicht immer da und haben auch nicht wirklich mitbekommen, was mit mir los war. Ich war meistens ganz auf mich allein gestellt und musste alles alleine bewerkstelligen. Lediglich in den Ferien, die ich zum Großteil bei meinen Großeltern verbrachte, gab es ein soziales Miteinander und gemeinsame Mahlzeiten.

Und nun zu der Geschichte, die zum eigentlichen Auslöser für meine Essstörung geworden ist.

Es war ein schöner sonniger Tag und ich habe eine Fahrradtour mit meiner Freundin unternommen. Meine Freundin war damals mein großes Vorbild und ich wollte figürlich so sein wie sie, denn sie war gertenschlank und konnte essen was sie wollte. Bei der Fahrradtour kamen uns zwei Jungs entgegen und der eine sagte auf einmal im vorbeifahren zu mir: „Schau mal, ein Nilpferd auf dem Fahrrad mit Brille“ und beide Jungs lachten ganz laut und fuhren weiter. Ich war am Boden zerstört nach diesem Kommentar und auch meine Freundin konnte mich nicht beruhigen und so habe ich beschlossen, mich ab diesem Tag nur von Brot und Obst zu ernähren. Innerhalb von sechs Wochen habe ich 15 kg abgenommen. Damals wog ich rund 60 kg und hungerte mich auf 45 kg herunter.

Danach war mein ganzer Körper in Rebellion, wie man sich vorstellen kann. Ich zitterte am ganzen Körper, war schlapp, lustlos, mir war abwechselnd heiß und kalt und mein Kreislauf fuhr Achterbahn. Aber auch nach diesem lautlosen Hilfeschrei hat sich keiner weiter um mich gekümmert und nachgefragt, was in mir vorgeht und warum ich das getan habe. Meine Oma schleifte mich lediglich zur Frauenärztin, weil meine Tage ausgeblieben sind und diese meinte nur: „ Das Kind muss wieder ordentlich essen, dann kommt auch die Periode wieder“ und damit war das Thema erledigt und ich durfte wieder nach Hause gehen. Von dem Tag an wurde ich mehr oder weniger verpflichtet zu Essen, ob ich wollte oder nicht.

Das war dann auch die Zeit, in der ich jede Diät mitgemacht habe und ebenso viele Jojo-Effekte auf meinem Konto verbuchen konnte. Ich wollte immer dünn sein, so wie meine Freundin. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich war totunglücklich, nichts hat geholfen und oft war keiner für mich da und ich war mit all meinen Problemen ganz alleine. Nur das Essen hat mich getröstet, wenn auch nur kurzfristig, aber das war mir damals nicht bewusst. Meine Gedanken begannen zwischen Essen und Abnehmen zu kreisen. Wenn ich am Abnehmen war, konnte ich es kaum abwarten, bis es die nächste Mahlzeit gab und wenn ich satt war, habe ich einfach eine oder mehrere Mahlzeiten ausfallen lassen, um wieder das Hungergefühl zu spüren. Zwischendrin gab es immer wieder exzessive Fressgelage, die auch mal tageslanges Fasten mit sich brachten.

Im Alter von 20 Jahren habe ich meinen damaligen Mann kennengelernt. Am Anfang war es total schön, aber bereits nach einem Jahr hat sich etwas verändert, was ich nicht sehen wollte, weil ich so froh war, dass mich endlich ein Mann ansieht und mich als Frau sah. Aber dieser Mann hat es nicht gut mit mir gemeint und mich seelisch manipuliert. Liebe, Respekt, Wertschätzung sowie Sex waren Fehlanzeige und trotzdem war ich 10 Jahre mit ihm zusammen und habe ihn sogar geheiratet, was der größte Fehler meines Lebens war. Ein Glück, dass ich nicht schwanger geworden bin.

Mein Diätverhalten war in dieser Zeit mehr oder weniger stark ausgeprägt, Fressattacken wurden gelebt und akzeptiert. Heute, da meine Sicht auf die Dinge eine andere ist, frage ich mich oft, warum ich das alles so mitgemacht habe und ich muss mir eingestehen: ich kannte es nicht anders. Weder von meinem Elternhaus, noch von meiner ganzen damaligen Umgebung. Niemand hat mir gezeigt, was es heißt, geliebt, respektiert, wertgeschätzt und akzeptiert zu werden wie man ist.

Als ich dahinter kam, dass mein Mann mich mit meiner damals besten Freundin betrog, habe ich den großen Schritt gewagt, mich endlich von ihm zu trennen und bin in eine eigene Wohnung gezogen und habe die Scheidung eingereicht. Die ganzen sogenannten Freunde und Bekannte, die ich damals hatte, hatte ich während der Beziehung mit meinem Mann kennengelernt. Eigene Freunde und Bekannte gab es bis auf meine beste Freundin nicht. Nach der Trennung kehrten diese mir aber den Rücken und ich stand plötzlich ganz alleine da. Auch meine andere Freundin war damals nicht wirklich da für mich, da sie zwei kleine Kinder hatte, dem Mann im Büro helfen musste und daher so eingespannt war, dass ich sie auch nicht mit meinen Problemen „belästigen“ wollte.

Mir ist am Anfang die Decke auf den Kopf gefallen und ich bin fast wahnsinnig in der neuen Wohnung geworden, denn ich war so schrecklich einsam und alleine. Um diese Leere zu füllen, habe ich mich ins Essen geflüchtet. Das war auch die Zeit, in der sich meine Essstörung verfestigt hat und zu einem elementaren Bestandteil meines Lebens wurde. Ich habe jegliche Emotionen negativer Art mit Essen bekämpft und tue es teilweise auch heute noch. Aber ich arbeite an mir und kann erste kleine Erfolge verbuchen.

Leider habe ich nach der Trennung von meinem Mann in drei weiteren neuen Beziehungen und vier Affären auch nicht das große Los gezogen. Meist wurde ich auch dort hintergangen, verraten, verkauft und schlecht behandelt, was meine Essstörung nur noch weiter gefördert hat. Selbst im Berufsleben (ich bin Teamassistentin und das gerne) wollten viele, besonders die Chefs, einen anderen Menschen aus mir machen und haben mich kritisiert, gemaßregelt, schlecht gemacht und mich von einem Kommunikations- und Soziale Kompetenzen-Seminar ins nächste geschickt, so dass ich irgendwann selbst der Meinung war, ich bin nicht gut genug für diese Welt und habe die Schuld bei mir gesucht.

Keiner hat das wahre Problem gesehen oder sehen wollen. Keiner hat mal hinter meine Fassade geschaut und mich versucht aus meinem Sumpf rauszuholen und so habe ich weitere 13 Jahre mit meiner Essstörung verbracht, die ich natürlich nicht als Essstörung wahrgenommen habe. Ich habe mich immer mehr von der Außenwelt abgekapselt und mir eingeredet, dass alles bestens sei und ich sehr gut alleine klar komme.

Ich habe diverse Male die Arbeitsstelle gewechselt, da ich meine Erfüllung gesucht habe. Und zwar weniger in der Arbeit, sondern eher im Umgang mit den Menschen. Ich war der Überzeugung, der Arbeitgeber, bei dem ich seit 2001 angestellt bin, sei jetzt endlich mal der richtige. Doch auch hier wurde mir nicht immer gut mitgespielt. Allerdings war ich mittlerweile des Wechselns müde und so bin ich geblieben und habe lediglich intern einige Male gewechselt. Um das alles ertragen zu können, habe ich mit meinem Essverhalten weiter gemacht wie bisher. Denn das war etwas, auf das ich mich verlassen konnte. Essen. Es war und ist immer da, wenn ich es gebraucht habe und brauche. Vielen Kollegen ist immer mal wieder aufgefallen, dass ich einige Kilos abgenommen und auch genauso schnell wieder zugenommen hatte. Viele dachten, ich sei krank (was ich ja auch bin) aber eben nicht so, wie sie vermutet haben und ich auch nicht. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, ich leide an einer psychosomatischen Krankheit, die behandelt werden muss, ich hätte schallend angefangen zu lachen.

2010 wurde ich dann als Krankheitsvertretung in eine neue Abteilung versetzt. Anfänglich lief alles gut, aber urplötzlich wendete sich das Blatt und ich habe die wahren Charaktere der Menschen und des Chefs kennen gelernt. Der Chef hat mich – da diese Entscheidung über seinen Kopf hinweg getroffen wurde – plötzlich angefangen zu mobben, wo es nur ging. Alle Anlaufstellen bei meinem Arbeitgeber habe ich vergeblich aufgesucht. Am Ende, war ich immer die Dumme und mein Chef stand mit blütenreiner Weste da. Es war niemand da, der Verständnis für mich gezeigt hat und ein interner Wechsel kam aufgrund Stellenabbaus auch nicht in Frage, also habe ich alles in mich reingefressen – sowohl seelisch als auch essenstechnisch. Die Völlerei nahm Ausmaße an, die meine Gesundheit auf eine harte Probe gestellt hat. Von den Gewichtsschwankungen jetzt mal abgesehen, hatte ich sehr oft Sodbrennen, mir war schlecht, ich hatte Bauchschmerzen und Herzrasen, was auch dem teilweise zu vielen Alkohol zuzuschreiben war. Mir ging es schlichtweg richtig mies und ich war zu dieser Zeit sehr oft kurzzeitig krank.

Da ich mittlerweile nicht mehr sehr risikofreudig bin, was meinen Job angeht, wie schon eingangs erwähnt, keine Familie mehr habe und alleine und auf mein Gehalt angewiesen bin, habe ich also die Zähne zusammengebissen und bin trotzdem in dieser Abteilung geblieben. Bis ich im November 2013 einen Nervenzusammenbruch hatte und mich vier Wochen habe krankschreiben lassen müssen. Das war der Moment, in dem ich mir geschworen habe, dass sich etwas ändern muss in meinem Leben und habe mich an die Sozialtherapeutin meines Arbeitgebers gewandt.

Nach unzähligen Gesprächen und dem dabei immer wiederkehrenden gleichen Thema meines Essverhaltens und den Auswirkungen auf meine Psyche hat sie mir geraten, eine Beratungsstelle für Essstörungen aufzusuchen. Bevor ich dies allerdings getan habe, habe ich mich mit dem Lesen diverser Lektüre über die verschiedenen Essstörungen auseinandergesetzt, um mir ansatzweise eingestehen zu können, dass mit mir etwas nicht stimmt. Als mir dies immer mehr klar wurde habe ich den für mich schweren Schritt gewagt und einen Termin bei dem Beratungszentrum gemacht. Dort habe ich dann die Gewissheit erhalten, dass ich an Binge Eating Disorder erkrankt bin. Das war im März 2014. Ich bekam dann die Chance für eine Gruppentherapie im August 2014. Die Zeit bis dahin habe ich mit der Gruppentherapeutin überbrückt, die auch Einzeltherapien anbietet, da ich so schnell keinen geeigneten kassenärztlichen Therapieplatz bekommen habe. Ich musste zwar alles selbst finanzieren, da nicht von der Krankenkasse anerkannt, was es mir aber wert war und immer noch ist. Und ich wollte jetzt etwas verändern und nicht erst in einem halben oder dreiviertel Jahr. Denn bekanntlich sind die Wartelisten sehr lang. Mir kam dann durch die Gruppentherapeutin und ihre Beziehungen doch noch das Glück zur Hilfe und ich bekam einen Einzeltherapieplatz bei einer Tiefenpsychologin. Alle Therapien laufen noch.

Durch die Homepage des Beratungszentrums bin ich auf die Seite lebenshungrig.de gestoßen. Dort habe ich mit Interesse von dem Onlineworkshop gelesen und für mich beschlossen, dass es genau das ist, was mir zur Unterstützung noch fehlt und habe mich angemeldet. Therapien in dem Rahmen bieten keine wirkliche Hilfe in Form von Tipps an wie ich sie gesucht und im Onlineworkshop auch gefunden habe. Allerdings hat es zwei Anläufe gebraucht, bis ich richtig durchgestartet bin und den Workshop jetzt durchziehe. Und wenn ich alles Revue passieren lasse, hat sich seit dem Auseinandersetzen mit dem Thema Essstörung seit November 2013 bis heute einiges Positives bei mir getan. Wenn auch der Weg bis heute durch viele Rückschläge gepflastert war. Aber positiv sei zu bemerken, dass ich seit Dezember 2014 bisher beschwerdefrei bin und keinen Fressanfall mehr hatte, was mich in meinem Vorhaben, meiner Essstörung gegenüberzutreten und mich ihr zu stellen, weiter bekräftigt.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone