Die neununddreißigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Gestern habe ich dem Mann, den ich liebe erklärt, dass ich nicht mit ihm und seinen beiden Freunden über Weihnachten Skifahren gehen möchte, weil ich dann nicht so sein kann wie ich bin. Da ich es nicht kann, drei Mal am Tag zu Essen, insbesondere nicht abends ein Fünf-Gänge-Menü. Lieber verbringe ich die Tage alleine mit mir und meiner Essstörung. Für mich bedeutet die Essstörung Freiheit. Freiheit – so zu sein wie ich bin. Freiheit meinen Gefühlen nachzugeben. Juhu, ich kann mir Weihnachten so richtig viele Plätzchen einverleiben. Ich kann jeden Tag einen Fressanfall haben, wenn ich will, da ich nicht nach Weihnachten mit zum Skifahren muss und nicht „dünn“ sein muss. Das ist meine Definition von Freiheit. Frei sein – Fressanfälle zu haben – dem Druck perfekt zu sein entfliehen. Die Freiheit ist nicht – ohne die Essanfälle zu sein, nein, meine Definition/ Welt ist, diese Ausleben zu dürfen.

Diese Sätze aufzuschreiben zeigt mir, wie krank ich eigentlich bin. Ich ziehe Einsamkeit, Essen, danach Verzweiflung und Frustration, dem Spaß, lieben Menschen und meinem Freund vor.

Ich weiß, wenn ich so weitermache, werde ich ihn verlieren. Noch schlimmer ist, ich werde immer mein eigenes Glück boykottieren. Immer wieder Verabredungen absagen, weil ich gerade nicht mein „Wohlfühlgewicht“ auf der Waage habe. Das ist das Leben, das ich nun bald mehr als die Hälfte meines Lebens führe. Mal besser mal schlechter. Wie oft habe ich gedacht, ich schaffe es. Wie oft habe ich gedacht es ist besser geworden. Wie oft bin ich wieder am selben Tiefpunkt. Die Essstörung – meine beste Freundin, meine Freiheit, die „Person“, die mich am besten kennt. Sie lässt mich nicht gehen, sie kommt immer wieder. Weil ich sie nicht gehen lassen will. Sie ist mein Halt. Meine „Liebe“ weil sie mir Sicherheit gibt. In jeder schwierigen Situation kann ich auf sie zurückgreifen. Schon jahrelang. Das ist wie die Trennung von einem langjährigen Partner, der einem die Treue schwor. Ich weiß es klingt verrückt und total krank – aber so fühlt es sich an. Neues – hat mir schon immer Angst gemacht. Diese „Gewohnheit“ und „Sicherheit“ aufzugeben und die Chance in einem Leben nach der Essstörung zu sehen, fällt mir schwer und macht mir Angst.

Gestern und heute haben wir uns deswegen gestritten. Solange ich mich so sehr unter Druck setze, so krank bin, ist es so schwer eine glückliche Beziehung zu führen. Ich alleine muss und kann nur die Verantwortung für mich übernehmen. Aber wenn ich mich selbst so wenig liebe, wie kann ich es von jemand anderen erwarten bzw. annehmen?

Es begann als ich 12/ 13 Jahre alt war. Meine Eltern haben sich getrennt. Es lief schon eine sehr lange Zeit schlecht. Ich wusste das. Mein Vater tat mir leid, da er schon immer der „Schwächere“ war. Ich bin mir sicher, dass er das wusste. Er hatte Angst, dass – wenn sie sich wirklich trennen – ich dann mit meiner Mutter mitgehe, da ich schon immer ein „Mama-Kind“ gewesen bin und wir die viel engere Bindung hatten. Er hat mich versucht zu bestechen und zwar mit Schokopuddings. Jeden Abend hat er eine Tüte voll Puddings mitgebracht und ich habe mich wie eine „Wahnsinnige“ da drauf gestürzt. Ihn hat es gefreut mir eine Freude zu machen und mir, ihm damit eine Freude zu machen.

Dann kam die Trennung. Es war sehr schwer – mein Vater am Boden zerstört, hat mich nächtelang „terrorisiert“ uns Angst gemacht, wenn er zu viel getrunken hatte, in seiner Einsamkeit. Ich kam damit nicht klar. Ich hatte eine ältere gute Freundin, die hat mir die „Essstörung“ näher gebracht. Wie gut es tut sich zu erleichtern, was sie alles gemacht hat, als es ihr schlecht ging. Obwohl sich meine Mutter so gut es ging, um mich kümmerte – es war nicht genug. Es konnte nicht genug sein. Ich brauchte mehr Aufmerksamkeit. Meine Familie war gerade zerbrochen, wir waren umgezogen, alles war neu. Es machte mir Angst. Also fing ich an zu hungern. Ich wollte, dass sich meine Mutter um mich sorgte, ich brauchte ihre Liebe.

Irgendwann meldete sich mein Vater nicht mehr. Ich verstand es nicht. Ich verstand nicht, warum – warum streicht er mich – seine einzige Tochter – so einfach aus seinem Leben? Ich wollte seine Liebe, seine Anerkennung. Ich erklärte mir selbst, dass ich dazu perfekt sein müsse, dann hätte ich seine Liebe verdient, dann würde er sich wieder melden. Perfekt: Das bedeutet – schlank/ dünn, hübsch und gute Noten. Ich strengte mich an, ich wollte ihn stolz machen.

Geendet hat es weder mit seiner Liebe/ Aufmerksamkeit/ Anerkennung, dafür in einer Essstörung. Die mich nun seit mehr als 15 Jahren gefangen hält – mir den Trost, die Liebe, die Anerkennung gibt, die mir von ihm/ von meinen Eltern damals verwehrt blieb.

Auf die Frage: „Was treibt mich an? Warum ist Aussehen so wichtig für mich?“ kann ich rückblickend nur nachdenken und antworten, dass seitdem mein Leben charakterisiert ist von dem Druck perfekt zu sein. Ich wollte gefallen, schon immer. Wollte dazu gehören. Ob in die Mädelsclique oder sonst wo. Ich wollte gut sein – immer. Gehörte zu den besten in der Schule und im Studium – und habe mir auch jetzt den Beruf der Unternehmensberaterin ausgesucht. Nur nicht Durchschnitt sein. Immer leistungsfähiger als die anderen. Karriere, Aussehen, Sport – die Bausteine meines Lebens. Das andere mich anschauen und denken: „Wow – tolles, hübsches, erfolgreiches Mädel.“ Die Worte meiner Familie: „Wir sind stolz auf dich“ nach guten Noten/ Abschlüssen waren Balsam auf meiner Seele. Das hat mich mein Leben lang angetrieben. Diese Worte zu hören. Ich habe mich natürlich während jeder Prüfung unter Druck gesetzt. Natürlich hatte ich Essanfälle anstatt zu lernen. Wie kann man denn auch sonst den Druck „perfekt zu sein“ aushalten.

Auch, wenn ich das nach außen hin vielleicht bin/ war. Habe ich mich selbst nie so gesehen. Ich habe immer nur meine Schwächen/ Fehler gesehen. Der nicht flache Bauch, die unperfekte Delle hier, das dort, die Schwäche in dem Bereich.

Später hatte ich einen Freund – Gott, ich war so verliebt in ihn und fand ihn so toll. Irgendwann erwähnte er mal, dass seine Exfreundin immer ganz wenig gegessen hat. Ich wusste also, was ich machen musste, wie ich sein musste, dass er mich auch so liebt. Extrem dünn, extrem wenig vor ihm essen – eine meiner leichtesten Übungen. Als die Beziehung scheiterte, ich glaube ich habe meine schwerste Trennung erlebt und gleichzeitig auch einen Höhepunkt der Essstörung. Ich ging in Therapie. Ich gestand die Essstörung meiner Mutter. Doch ich arbeitete nicht wirklich an mir. Es war eher ein „Abladen“ der Verantwortung auf meine Mutter und Therapeuten. Klar, das kann nicht funktionieren. Heute hat mich diese Trennung stärker gemacht im Hinblick darauf, dass ich mich an keinen Mann mehr klammere. Ich weiß ich habe diese Trennung überlebt, ich schaffe auch die nächste.

Trotz allem spiegeln all meine Beziehung die verkorkste Beziehung zu meinem Vater wieder. Es reicht mir nicht aus, Sätze wie „ich liebe dich“, „ich will dich sehen“ nur einmal zu hören; nein ich muss diese so oft wie möglich hören, damit ich diese glauben kann. Kein Mann kann mir die Liebe geben, die mir mein Vater vorenthalten hat. Jeder Mann hat es einfach unglaublich schwer mit mir.

Ich weiß, dass mein Vater mich liebt, auf seine Weise. Er kann es mir bis heute nicht zeigen. Kontakt haben wir nur zu Weihnachten und Geburtstagen per SMS. Ich habe mich daran gewöhnt. Jeder hat seine Vergangenheit und natürlich definiert diese wer wir sind. Aber ich möchte nicht mehr, dass sie meine ganze Zukunft definiert. Trotz allem bin ich dankbar. Denn ich habe eine tolle Familie (Mutter, Tante, Großeltern). Jeder einzelne von uns hat sein Schicksal. Dinge, die nicht so liefen wie sie sollten. Der Unterschied ist nur, wie man damit umgeht. Damals bis heute war die Essstörung immer meine Überlebensstrategie. Damals, war ich zu jung, um anders damit umgehen zu können. Heute – ja was ist heute – was ist meine Ausrede, meine Entschuldigung? Gewohnheit? Faulheit, sich damit auseinander zu setzen? Angst? Das immer wieder kehrende: Ab morgen.

Eine Trennung nach 15 Jahren Beziehung ist schwer. Jeder kann das nachvollziehen. Man ist aneinander gewöhnt. Man kennt sich in-und auswendig. Man vertraut dem anderen, da er immer da ist.

Doch ich stehe heute an einem Scheideweg. Ich weiß, dass ich meinen Freund verlieren werde, wenn ich so weitermache. Und es geht nicht nur um ihn – ich werde auch den nächsten Partner verlieren. Dabei will ich später mal eine Familie. Das ist mir total wichtig. Ich habe die Wahl – entweder mache ich so weiter und lebe mit meiner Freundin der Essstörung weiter, oder ich fange an zu leben mit Freunden und Familie. Fange an auf Verabredungen zu gehen. Lasse meine Laune nicht mehr von einer Zahl auf der Waage bestimmen. Akzeptiere wer ich bin:

Wer bin ich?

Ja, ich werde immer Karriere machen wollen, denn ich weiß, ich habe es drauf. Ich weiß ich bin intelligent und habe eine hohe Leistungsbereitschaft. Aber ich muss das „was treibt mich an“ neu definieren. Ich habe einen tollen Körper. Der hat es wirklich am wenigsten verdient, dass ich ihn immer so schlecht behandele. Welche Leistungen, der schon erbringen musste, welche Exzesse. Und er war mir immer treu. Und ich sorge so schlecht um ihn. Ja, mein Körper sieht nicht mehr so aus wie vor drei Jahren. Ja, ich finde „skinny“ toll und beneide die Topmodels um diese Körper. Aber ist das das Wichtigste in meinem Leben? Anerkennung von fremden Menschen? Gibt mir das wirklich die Liebe, die ich brauche? Das fremde oder bekannte Menschen mich „bewundern“, um meine Figur beneiden. Um eine Figur, die durch Tränen, Leiden, Hass und Selbstzerstörung kreiert wird. Das ist keine Figur, die entsteht, weil ich gut für mich sorge, mich bewege und gesund ernähre. Das ist keine Figur, die mit Liebe versorgt wird. Das ist eine Figur, die auf Kosten meines Lebens entsteht. Auf Kosten von der tatsächlichen Liebe meiner Freunde und Freundes. Auf Kosten von Spaß, Ausgehen mit Freunden, Skifahren. Ist es das wert? Soll das alles sein, was für mich im Leben zählt und was dieses eine Leben zu bieten hat? Ist es wirklich so wichtig, wie viel Kilo ich gerade wiege?

Das Leben ist so lebenswert, viele haben es wirklich schwer, und ich mache es mir teilweise mit aller Kraft so richtig schwer.

Es ist doch scheißegal, wie ich aussehe, wie viele ich wiege. Was zählt im Leben ist Spaß, Freunde, Familie, Liebe. Ich schaue immer zurück. Ärgere mich über Dinge, die nicht gut liefen. Anstatt nach vorne zu schauen. Ja, es gibt Gründe in der Vergangenheit für diese Essstörung. Aber heute lebe ich in der Gegenwart. Ich möchte nicht meinen Freund verlieren oder selbst wenn er bleibt, mich dauernd streiten, weinen, leiden aufgrund von meiner Essstörung und meiner damit andauernden verbundenen Unzufriedenheit. Wenn ich jetzt nichts ändere und an mir arbeite – wann dann? Auf was warte ich denn? Der Tag X wird nicht kommen, wenn ich nicht zu dieser Veränderung bereit bin. Ja, eine Trennung ist schwer, sie ist schmerzhaft und dauert. Eine Trennung wird nicht innerhalb von ein paar Tagen verarbeitet sein. Aber genau wie bei einer Trennung, wo man das Gefühl hat man muss sterben und man möchte sich so gerne bei dem anderen melden und ihn zurückholen in den Momenten der Einsamkeit und Verzweiflung, genau in diesem Momenten möchte ich stark sein.

Ich möchte dann die Essstörung nicht wieder zurückholen. Ich möchte sie gehen lassen und dieses Mal für immer. Ich trenne mich im Guten. Nicht im Bösen. Sie hat mir viel gegeben und wie ich es geschrieben habe – ist sie irgendwie meine Liebe. Aber nun ist es Zeit im Hier und Jetzt zu leben und meine Gegenwart nicht von meiner Vergangenheit/ vergangenen Beziehung kaputt machen zu lassen. Dafür braucht es Zeit. Es wird nicht einfach sein, sie gehen zu lassen, über sie hinweg zu kommen. Aber ich bin bereit. Ich will die Chance sehen, die Chance mit Gefühlen lernen anders umzugehen als durch Essen. Tschüss Essstörung – hallo Leben, ich bin gespannt wie du aussiehst ohne die Essstörung.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone