Die siebte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob das Essen für mich jemals etwas Schönes, Unkompliziertes und Selbstverständliches war.

Meine erste Erinnerung die mit meiner Figur zu tun hat, sah so aus, dass ich vor dem Spiegel im Flur meiner Eltern stand und meinem Spiegelbild gesagt habe wie fett es geworden sei. Ich weiß nicht mehr wie alt ich da war. Vielleicht 9 oder 10 Jahre? Schon immer bin ich dicker gewesen als meine Schulkameraden. Bereits in der Grundschule bin ich auf schlimme Weise von meinen Mitschülern gehänselt worden. Wenn es nicht wegen meiner Figur war, so war es wegen meiner Brille oder weil ich in der Schule sehr strebsam und ehrgeizig war. Diese Hänseleien machten mich sehr einsam. Ich hatte zwar ein paar Freunde, aber nicht wirklich welche, die zu mir standen oder den ich vertrauen konnte. Sie waren für mich nur Menschen die ich brauchte, damit ich nicht wieder als Letzte in die Mannschaft im Sportunterricht gewählt wurde oder dass ich alleine auf dem Schulhof spielte.

Auch hatte ich von zu Hause nie einen normalen Umgang mit Essen gelernt. Ich kannte meine Mama nur auf Diät oder am fasten oder am nörgeln, dass sie wieder so und so viel wiegen würde und noch so oder so viel abnehmen müsse. Als ich auf die weiterführende Schule ging wurde es leider nicht besser. Ich war immer noch die dicke Streberin mit der Brille über die man sich lustig macht und bei der man gegebenenfalls bei einer Arbeit abschreiben kann. Besonders traumatisch waren für mich immer die Bundesjugendspiele mit dem 800m Lauf. Bei dem kam ich immer als Letzte ins Ziel. Ich musste mich dem immer stellen und es gab nie einen Ausweg. Ich musste da immer hin, egal wie furchtbar ich mich fühlte. Ich habe meinen Eltern aber auch nie gesagt wie sehr ich mich vor diesen Sportfesten fürchtete. Ich glaube aber auch nicht, dass dies etwas gebracht hätte.

Als ich elf oder zwölf Jahre war sagte mir meine Mama mal etwas ziemlich verletzendes über meine Figur. Dies habe ich bis heute nicht vergessen. Ich weiß, dass wir damals an einem Tag abends auf der Kirmes waren und ich Pommes gegessen habe. Als wir wieder zu Hause waren habe ich mich auf die Waage gestellt und einen regelrechten Schock bekommen. Dies war der Augenblick in dem ich den festen Entschluss fasste endlich abzunehmen. Da die Sommerferien anstanden hatte ich also genug Zeit. In diesen 6 Wochen aß ich so gut wie gar nichts mehr und habe so viel Sport gemacht wie möglich und nötig, da ich Sport gegenüber immer noch eine starke Abneigung verspürte. Natürlich habe ich innerhalb dieser 6 Wochen eine Menge abgenommen, was mir auch deutlich anzusehen war. Zum Ende hin ging es jedoch nur langsam runter und ich hatte meinen ersten emotionalen Einbruch.

Ich habe an diesem Abend so sehr geweint, dass sogar meine Mama auf mich aufmerksam wurde. Sie hat mich getröstet indem sie mir meinen bisherigen Erfolg verdeutlichte und mich ermutigte nicht aufzugeben. Auch wenn sich das ziemlich schlimm anhört, glaube ich nicht, dass meine Mama damals geahnt hat wie schlecht es mir schon ging und das ich kaum noch aß. Da wir selten gemeinsame Mahlzeiten hatten, da mein Papa zu diesem Zeitpunkt durch einen Firmenwechsel andere Arbeitszeiten hatte, fiel es ihnen kaum auf was und ob ich etwas aß. Natürlich haben sie gemerkt, dass ich abnahm, aber ich versicherte Ihnen ja auch, dass ich das alles dadurch hinbekomme, dass ich etwas weniger Süßes esse und sie haben mir geglaubt.

Nach den Sommerferien haben natürlich auch meine Mitschüler gesehen, dass ich wesentlich dünner war und ich habe so viele positive Komplimente bekommen, dass mich das angespornt hat weiterhin wenig zu essen. Wie das wahrscheinlich bei vielen passiert, ist irgendwann der Punkt erreicht an dem man diese Disziplin nicht mehr aufrechterhalten kann. Ich weiß, dass ich damals mit meiner Mum einkaufen war und dann als wir an der Kasse standen und ich dabei zusammengebrochen bin. Ich fühlte mich auf einmal so müde und legte meinen Kopf auf die Schulter meiner Mutter und dann bin ich plötzlich mit dem Oberkörper nach vorne und mit dem Kopf gegen den Einkaufswagen gefallen. Das nächste was ich weiß ist, dass ich auf dem Boden lag, die Beine hochgelegt. Die Verkäuferinnen wollten einen Krankenwagen holen, aber ich konnte Gott sei Dank noch alles abwenden. Nach diesem Ereignis schaute meine Mama nun mehr danach was ich aß. Und da ich kaum noch Kraft hatte nichts zu essen, aß ich.

Natürlich nahm ich dadurch zu und mir kam zum ersten Mal der Gedanke mir den Finger in den Hals zu stecken, so wie ich es aus dem Fernsehen kannte. Selbstverständlich habe ich damals schon etwas von Bulimie gehört und wie und warum man dies macht. Ich sah es als den perfekten Ausweg an, essen zu können ohne zuzunehmen. Ich war absolut überzeugt, dass ich jederzeit wieder aufhören könnte. Auch sagte ich mir, dass ich lieber krank und dünn als dicker und gesund sein will.

Mit der Zeit perfektionierte ich mein Vorgehen und probierte die unterschiedlichsten Dinge aus, um mein Essen wieder loszuwerden und auch anderweitig irgendwie Gewicht verlieren zu können. Trotz dieser meistens mehrmaligen, täglichen Tortur habe ich meinen Realschulabschluss und mein Abitur sehr gut geschafft. Meine Mama schöpfte zwar mit den Jahren irgendwann Verdacht, jedoch führten Annäherungsversuche zu diesem Thema immer zu starken Konflikten und schlimmen Auseinandersetzungen.

Weiterhin merkte ich, dass meine Essstörung doch nicht meine beste Freundin ist, so wie ich das immer empfunden habe. Sie machte mich immer einsamer. Ich zog mich immer mehr von meinem sozialen Umfeld zurück, damit ich nicht mehr in Situationen kam, in denen ich essen musste. Denn ich konnte nicht einfach „nein“ sagen, da das ja unhöflich war. Also aß ich und versuchte danach so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Denn ich konnte nur zu Hause das Essen wieder loswerden. Also war ich dann wieder schnell allein, obwohl ich mich gerne auch mal länger mit Freunden und später Arbeitskollegen unterhalten hätte.

So merkte ich, dass meine Bulimie eine Falle ist in der ich nun saß und nicht mehr raus kam. Ich war total verzweifelt. Auch kamen jetzt keine Komplimente mehr sondern entweder gar nichts oder Kommentare, dass ich jetzt doch aufhören sollte, da ich doch nun eher krank aussah. Auch verbot ich mir weiterhin lebenswichtige Dinge wie das Trinken, da ja nach einem Glas Wasser die Waage direkt wieder mehr anzeigte und am nächsten Tag ja auch noch nicht weg war. Mehr als 10 Jahre waren meine Tage geprägt von essen kaufen, essen, kotzen, nachts auf Toilette gehen, da ich Abführtabletten genommen hatte, depressiven Phasen und Schuldgefühlen, Panik vor dem Zunehmen, Selbstzweifeln und Selbsthass.

Irgendwann konnte ich nicht mehr und wollte auch nicht mehr so weiter machen. Heute begleitet mich meine Bulimie immer noch. Sie ist lange noch nicht weg und ich bin noch lange nicht geheilt, aber ich habe mich auf den Weg begeben und möchte ihn auch weitergehen. Ich möchte mehr vom Leben haben und mehr im Leben sehen als das Innere der Toilettenschüssel. Inzwischen bin ich an dem Punkt angekommen an dem ich mich als wirklich lebenshungrig bezeichnen würde.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone