Die siebenundzwanzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Seit dem ich siebzehn bin, bin ich essgestört. Das Wort klingt selbst nach all den Jahren immer noch merkwürdig. Es hat nie seinen Schrecken verloren. Obwohl es doch so oft ausgesprochen wurde – von Ärzten, Freunden, Fremden.

Es fing an mit der Anorexie, wie genau ich da reingerutscht bin, weiß ich gar nicht. Ich erinnere mich jedoch deutlich an die speziellen Foren, das Wissen, dass man sich bewusst oder unbewusst aneignet. Hungern, Sport – jedes Gramm weniger war erfüllend, stagnierende Zahlen hielten Missmut bereit und eine Zunahme war ein Donnerschlag, der mich noch mehr anspornte.

Pro Ana Seiten, Leitsprüche, Bilder von unnatürlich dünnen Menschen, Kalorientabellen, Tipps, wie man noch schneller Gewicht verlor, Essenspläne (…) all sowas wurde Alltag, wurde manifestiert in meinem Kopf. Ich muss dazu sagen, dass ich mit 1,75 nie mehr als 57 Kilo wog. Und doch wollte ich aufeinmal dünn sein. Oder eher: ich wollte dünner sein. Weniger sein. Perfekt sein.

Nach ein paar Monaten rutschte ich von der ‚einfachen‘ Magersucht in die Bulimie. Es war ein Impuls, ich wollte es ’nur einmal‘ versuchen. Daraus wurde nichts – denn wenn man diese Art der Nahrungs’aufnahme‘ entdeckt, bleibt sie stets griffbereit. Sie lässt einem ein Hintertürchen offen. Ich wollte sie als ‚Ausnahme‘ sehen, wenn ich mir etwas gönnen wollte, wenn ich zu viel aß (…) Aber sie wurde rasendschnell zum Zwang, zum alles besitzenden, alles auffressenden Zwang. Ich stopfte mich voll, hatte tagtäglich Fressattacken, übergab mich bis zu zwölf mal pro Tag. Fast meine gesamten Ersparnise, jeder Cent, den ich bekam, spülte ich letztendlich von der Toilette direkt in die Kanalisation. Ich war unersättlich. Hielt jedoch mein Gewicht von 45-47 Kilo. Die Essstörung blieb jedoch nicht lange alleine.

Hinzu kamen eine Persönlichkeitsstörung samt selbstverletzendem Verhalten und Panikattacken, Aggressivität, starke Stimmungsschwankungen, Alkoholabhängigkeit und Drogenmissbrauch, Depressionen und Selbstmordgedanken sowie -pläne. Die Melancholie, eine pechschwarze Wolke begleitete mich auf Schritt und Tritt, der Hass auf alles war immer da. Einmal kurz nachgedacht, kurz geblinzelt und ich war eine vollkommen andere Person, als noch Sekunden zuvor. Ich war unberechenbar.

Ich wollte gesehen werden, wahrgenommen werden und gleichzeitig wollte ich verschwinden, raus aus meiner Haut. Ich bewegte mich ständig in Gegenteilen. Keiner sollte mich berühren, niemand mir nahe kommen – und doch stürzte ich mich blind in Affären und One Night Stands. Ich zog Menschen an mich ran, um sie wegzustoßen. Wollte geliebt werden, während ich mich selbst hasste.

Auch die körperlichen Beschwerden ließen mich nicht lange warten. Immer öfter hatte ich Herzrasen, Zitteranfälle, meine Zähne wurden brüchig, mein Haar fiel aus. Ich war matt, lustlos, ständig gereizt. Meine Ausbildung konnte ich nicht erfolgreich zu Ende bringen, denn mir fehlte die Kraft, die Stabilität. Einige Praktikas brachte ich danach hinter mich, doch aufgrund meines körperlichen Zustandes wurde mir kein Ausbildungsplatz angeboten. Mein Leben drehte sich um Exzesse, um Extreme. Mir war alles egal – ich wollte einfach etwas spüren, mich spüren.

2014 war ich in drei verschiedenen Kliniken. Nicht für mich – für andere. Meine Mama hat nie mit mir darüber gesprochen, sie hat sich nichts anmerken lassen, wenn ich am Tisch aß und aß und aß. Heute denke ich, dass sie nicht mit mir geredet hat, weil sie wusste, dass ich ungehalten reagieren würde, dass sie hilflos war. Oder aber es tatsächlich einfach nicht sah, nicht sehen wollte.
Ich konnte keine Hilfe annehmen, weil ich meiner Meinung nach nicht krank war. Und so betrog, log, verheimlichte ich statt irgendetwas einzusehen, zu nutzen. In der zweiten Klinik wäre ich der Bulimie beinahe erlegen, doch kurz bevor ich mich selbst entlassen hatte, wurde mir Blut abgenommen, zum Glück – meine Werte waren im lebensbedrohlichen Bereich, insbesondere der Kaliummangel wurde als ’sehr gefährlich‘ bewertet. Mein Arzt sagte mir, nachdem ich stundenlang im Ausgang war, dass mein Herz jeden Augenblick stehen bleiben könnte. Es war ein Schock.

Ich nahm mich zurück, versuchte stärker zu sein, als die Stimme, das Verlangen in mir. Das Reduzieren klappte ein paar Wochen, in der folgenden Klinik ließ ich es gänzlich, doch nachdem ich binnen sieben Tagen aus dieser geschmissen wurde („Wenn sie zu Hause zugenommen haben, können sie wieder kommen!“) geriet meine Beherrschung schnell aus dem Gleichgewicht, zurück in alte Muster. Die Ängste waren weiterhin präsent, aber ich konnte nicht aufhören.

Erst im Januar/Februar 2015 machte ich der Bulimie den Gar aus, einfach so. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, ich weiß nur, dass ich mein Leben ändern wollte. Und so war dieser Sprung, diese endlos scheinende Hürde, gemeistert. Nach und nach ließ ich ebenso das Trinken sein, brach zahlreiche Kontakte ab – und fing an, mich ‚gesund und bewusst‘ zu ernähren. Dazu lief ich jeden Tag stundenlang, kilometerweit. Ich war viel alleine, verschluckte meine Stimme, war gereizter als je zu vor. Alles musste ich planen, immer in Bewegung sein. Irgendwann hatte ich meine Blase nicht mehr unter Kontrolle, meine Tage waren unbemerkt verschwunden, ebenso wie Tränen, Gefühlsregungen, klare Gedanken. Meine Konzentration, die Gedächtnisfähigkeit sank auf ein Minimum. Ich war zu unruhig zum schlafen, führte Gespräche mit mir im Kopf und verhungerte beinahe an Süßstoff und Rohkost. Ich wurde weniger und weniger und bemerkte es selbst nicht, denn ich dachte, es würde mir besser gehen.

Aber auch meine Mitmenschen sagten nichts. Sie ließen sich nichts anmerken. In meinem Wahn führte ich sogar einen Recovery-Blog um anderen zu zeigen, wie weit ich vorran gekommen bin – und erst heute, wenn ich die Fotos durchklicke, die Texte lese, darüber nachdenke sehe ich, wie weit ich doch von Woche zu Woche gefallen bin. Ich schottete mich von anderen ab. Lautstärke, Trubel konnte ich nicht auch noch außerhalb meines Inneren ertragen, denn in mir war es laut und chaotisch genug. Ich sperrte mich ein und die reale Welt aus.

Im Mai wurde ich von einer Therapeutin, bei der ich mich vorstellte – wie es dazu kam, weiß ich nicht – zwangseingewiesen. Mit 36/37 Kilo. Geschlossene Psychiatrie, Intensivstation, innere Medizin, zurück in die Geschlossene und zum Schluss auf eine offene Station. Ich wusste nicht, wie mir geschah, denn ich verstand den Grund nicht. Ich war verwirrt, hilflos und allein. Voller Angst.

Die Magensonde wurde mir sehr schnell wieder entfernt, da ich ja ‚essen wollte‘. Ich wollte nicht sterben, es war ein Versehen. Auch, wenn es naiv klingt, so war es nicht mein bewusster Plan mein Leben umzustellen um zu verhungern. Und doch… irgendwann hielt sich die Stimme nicht mehr zurück. Ich fing an Fresurbin wegzuschütten, mich unerlaubt körperlich zu betätigen, vor dem wiegen Literweise zu trinken – ich manipulierte noch im Krankenhaus wo ich nur konnte.

Aber ich übergab mich nicht. Ich nahm sehr langsam zu und ohne meine einfühlsame Mama, meine wundervolle Familie, meinen besten Freund, der mich nie, nie im Stich ließ, wäre ich davon geflogen, denn ich hätte mich nicht halten lassen. In den Monaten, in denen es mir so schlecht ging, erhielt ich die Unterstützung, die ich schon Jahre zuvor gebraucht hätte. Aber vielleicht ließ ich es auch einfach nur endlich zu.

Als ich aus der Klinik, wegen einer Meinungsverschiedenheit und weil ich wieder selbst entscheiden konnte, gegangen bin, wog ich sechs Kilo mehr. Ich traf auch dieses mal tolle Menschen, fing einige unvergessliche Momente ein und lernte zum ersten mal etwas über mich selbst und ich war dankbar – aber es hätte keinen Sinn mehr gemacht, dort zu bleiben.

Zu Hause nahm ich weitere fünf Kilo zu, die ich monatelang hielt. Es war ein anderes zu Hause, als jenes, dass ich verließ: meine Mama und ich können heute offen reden, sie hilft mir, sie bestärkt mich. Ebenso wie viele andere Familienmitglieder, mein bester Freund und meine beste Freundin. Ich muss mich nicht verstecken, sie tragen meine Knochen, meine Narben so selbstbewusst, wie ich es viele Jahre nicht aufrichtig konnte.

Bewegung, Kalorien, Gewicht – all diese Dinge sind immernoch fest in mir verankert, bestand jedes einzelnen Tages. Aber heute ist es mir vollkommen bewusst & ich weiß, dass ich nicht alleine damit bin. Ich schaffe es sogar wieder, mehr als ein Stück Schokolade zu essen & die negativen Stimmen auszublenden. Denn ich weiß, dass ich stärker bin. Dass ich essen darf.

In den letzten Wochen verlor ich wieder zwei Kilo Gewicht und es machte mich zum ersten mal nicht stolz, es ängstigte mich. Und so kämpfe ich weiter, Tag für Tag gegen die kalte Hand der Anorexie, denn mir ist vor Augen geführt wurden, dass das Leben ein einmaliges Geschenk ist und binnen Sekunden vorbei sein kann. Dass es sich lohnt schlechte Zeiten durchzustehen, um die Guten zu erleben.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone