Die zehnte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Prüfungsvorbereitung. Noch 6 Tage, dann ist „Stunde Null“ erreicht. Hinter mir liegt ein hartes Wochenende.

Rückblick:

Donnerstag die Erkenntnis, dass ich grade nicht an der Schwierigkeit meines Medizinstudiums scheitere, sondern dass mir schlichtweg der Mangel an Selbstvertrauen ständig immer und immer wieder die Lust am Lernen rauben. Wie soll ich mich auch motivieren, stundenlang Bücher zu wälzen und zu lesen, wenn ich mir schon gar nicht zutraue, dass irgendetwas davon in meinem Kopf bleibt. „Du bist nicht so schlau wie die Anderen!“, „Das raffst du nie!“ Der Saboteur in meinem Kopf schafft es, sich stets einzuschleichen und immer und immer wieder mein Handeln und Fühlen zu manipulieren. Systematisch. Wie ein Virus, der sich im menschlichen Körper versteckt und wenn dieser geschwächt ist, die Gelegenheit nutzt, um im Körper aktiv zu werden und sich zu vermehren.

Was tun? Selbstvertrauen in neun Tagen aufbauen? Zur Hölle. Das zieht mir noch den letzten vorhandenen Boden unter den Füßen weg.

Nach einem Tag voller Tränen der Verzweiflung, aber auch der Wut über die aktuelle Situation schaffe ich am Freitag, wenn auch mit zitternden Beinen den Weg zur Uni.

Der Optimist in mir weiß: Jetzt ist es an der Zeit das anzuwenden, was ich in den letzten 15 Therapiestunden, in Gesprächen mit Freundinnen, die um mein Problem wissen und mich auf meinem Weg weg von der Bulimie begleiten, in langen Spaziergängen in der Natur, beim Nähen… mir mühsam erarbeitet habe.

Ich starte also einen neuen Versuch. Mein Ziel: Klarkommen. Mich nicht verrückt oder gar schlecht machen lassen. Ruhig bleiben. Die Prüfungen mit einem halbwegs guten Gefühl schreiben. Ich habe im Vergangenen halben Jahr auch viel dafür getan. Nein, mir bedeutet mein Studium zu viel, als dass ich mir von meinem Essproblem dabei die Freude nehmen lassen möchte.

Mit dieser Ansage an mich selbst schaffe ich es tatsächlich im Beisein meines Freundes, das Wochenende mit einem halbwegs guten Gefühl und überraschend konzentriertem Arbeiten hinter mich zu bringen.

Voller Motivation und ganz zufrieden gehe ich Sonntagabend ins Bett. Ohne allerdings zu merken, dass mein innerer Saboteur schon wieder werkelt.

Montagmorgen. Um halb acht die Wohnung geputzt, gefrühstückt. Dann der Gang zum Schreibtisch. Fünf Minuten später stehe ich an der Kaffeemaschine. Eigentlich ist Kaffeepause erst um elf Uhr. Naja. Wenn ich schon hier bin kann ich ja auch gleich… Es bleibt nicht beim Blick in den Kühlschrank. In den folgenden zwei Stunden pendle ich zwischen Küche und Schreibtisch.

Irgendwann komme ich an den Punkt, an dem ich mich normalerweise entscheide einfach einkaufen zu gehen, eine Fressorgie zu starten, zu kotzen. Wie viele Male vorher. Ich weiß, dass ich so wertvolle Stunden verlieren werde. Und ich denke wundersamer Weise nicht an wertvolle Stunden des Lernens und der Prüfungsvorbereitung. Sondern ich denke an wertvolle Stunden mit mir.

Ich schaue in den Spiegel. Ich versuche mich zu sehen. Ohne auf die innere Stimme zu hören, die mir schon wieder brüllend vermitteln will, dass ich bereits versagt habe. Im Kampf gegen die Bulimie, in der Prüfungsvorbereitung, als Mensch. Ich ziehe erst den linken und dann den rechten Mundwinkel nach oben und kann dann schon fast grinsen, weil dieses verzerrte Lächeln so seltsam aussieht.

Ich habe nichts zu verlieren an diesem Tag. Vielleicht habe ich genau aus diesem Grund auf einmal den Mut, was anderes auszuprobieren. Anstelle Lidl aufzusuchen schalte ich das Radio ein und nehme die Tube gelber Acrylfarbe und widme mich der Leinwand, die seit einigen Wochen auf Anraten meiner Therapeutin weiß und unberührt in meinem Zimmer steht.

Ein zarter Spritzer und schließlich die ganze Tube der gelben Farbe landen auf der Leinwand. Eine ganze Tube roter Farbe hinterher. Wer braucht schon Pinsel wenn man doch fünf Finger an jeder Hand hat? Während ich die Struktur der Leinwand sanft unter meinen Händen spüre und mich mit voller Hingabe der Verteilung der Farbe über die ganze Fläche widme werde ich ruhiger.

Als ich eine Stunde später farbverklekst auf dem Weg in die Dusche bin, sieht die Welt wieder ganz anders aus. Ich bin viel ruhiger und kann endlich sehen, was mich schon wieder so nah an den Rand einer Ess-Brech-Attacke getrieben hat.

Schmerzlich erkenne ich, dass ich mit dem abnormalen Plan in den Tag gestartet bin, mindestens acht Stunden am Schreibtisch zu verbringen und mich auf die Prüfungen vorzubereiten, 90 Minuten Vorlesung zu besuchen, eine Stunde bei meiner Therapeutin zu absolvieren und final noch den Yogakurs am Abend zu besuchen. Aua. Als ich sehe, was ich mir für diesen Tag alles zumuten wollte werde ich fast wieder wütend. „Wozu gehst du denn zur Therapie?“ Schon wieder droht eine Triade an Selbstvorwürfen. Aber da ist auch ein erneutes Achtungssignal, das da in meinem Kopf aufleuchtet.

Nein, jetzt ist nicht die Zeit für Selbstvorwürfe. Ich gehe zurück in mein Zimmer und schaue auf mein eben fabriziertes Bild. Ich habe es doch vor einigen Minuten geschafft ohne Hilfe von außen eine brenzlige Situation ins Gute umzukehren.

„Hey, darauf kannst du stolz sein!“

„Wirklich?“ fragt eine andere Stimme.

„Wirklich. Schau doch, du lächelst sogar noch, wenn du an die Malaktion von eben zurückdenkst! Ich glaube du hast gerade nicht nur einen Eklat verhindert, sondern dir was richtig Gutes getan. Du hast allen Grund stolz auf dich zu sein.“

 

Heute ist Dienstag.

Die Situation mit dem Bild scheint schon ewig her. Noch sechs Tage bis zu den Prüfungen. An Lernen war auch heute nicht zu denken. Alle paar Stunden muss ich ausrücken.

Gegen Panik die aufkommt, wenn ich in den Seminaren sitze und feststelle, dass ich nicht alles weiß. Wenn ich zu Hause am Schreibtisch sitze und weiß, dass ich nicht in den nächsten sechs Tagen nochmal alles, alles durchgehen kann. Wenn mir bewusst wird, dass ich mich darauf verlassen muss, dass ich schon viel gelernt habe und etwas kann.

Ich bin unendlich müde Ich komme mir vor wie das Technische Hilfswerk im Dauereinsatz gegen eine Gedankenspirale aus Selbstabwertung und Versagensängsten. Immer wieder die selbe Krise, die es hier einzudämmen gilt. Ohne Anspruch auf vollständiges Gelingen.

Ich will nicht untergehen. Ich merke, dass ich viel Kraft habe. In meinen Gedanken. Dass ich Dinge selbst zum Guten drehen kann. Dass ich das Recht habe ganz bewusst der Stimme in meinem Kopf, die mir immer und immer wieder vor Augen hält, warum ich all das was ich tue nicht gut genug tue widersprechen darf und kann. Manchmal schreie ich sie an. Manchmal übertöne ich sie mit schöner Musik. Manchmal übermale ich sie – wie gestern, mit knallrotem Nagellack. Ich sage mir jeden Tag, dass es keinen Grund gibt, mich schlecht zu fühlen. Ziehe mir die Klamotten an, auf die ich Lust habe, koche mir den leckersten Tee der Welt, versuche lieb zu mir selbst zu sein. Darauf zu achten was ich brauche. Ich behandle mich mit so viel Respekt wie seit langer, langer Zeit nicht mehr. Ich bin die Königin in meiner eigenen Welt.

Ich will es die kommenden Tage so halten wie Beppo, der Straßenkehrer aus dem Kinderbuch Momo. Beppo kehrt den lieben langen Tag die Straße. Ohne nach vorn zu schauen, weil da würde er sich der Unendlichkeit seiner Aufgabe bewusst werden. Während er kehrt singt Beppo und am Ende eines jeden Tages blickt er auf das Geschaffte zurück.

Jeder Tag, an dem ich es schaffe, mich nicht von Prüfungspanik einholen zu lassen, mich nicht in die Welt meines seit langer Zeit bestehenden Essproblems zu flüchten, sondern bewusst wahrzunehmen, was mich grade umtreibt ist ein gewonnener Tag. Heute Abend weiß ich, dass viel wichtiger als eine bestandene Prüfung ist, dass ich gut mit mir umgehe. Nur so kann ich langfristig eine gute Ärztin werden und meinem Beruf und dem Leben als Ganzes mit Freude begegnen. Dafür lohnt es sich zu arbeiten und auch den ein oder anderen Rückschlag einzustecken. Es ist noch ein weiter Weg den es zu gehen gilt, sowohl im Studium als auch im Umgang mit der Essstörung. Es ist mein Weg. Ich allein entscheide, wie schnell ich ihn gehe, ich gebe auch die Richtung vor. Es scheint, als wird der Saboteur in meinem Kopf ein wenig kleiner während ich mich an solchen Gedanken labe…

Noch sechs Tage bis zu den Prüfungen. Wen interessierts?

Vor den Prüfungen ist irgendwie ja auch nach den Prüfungen!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone