Die zwölfte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Die mir wohl am meisten gestellten Fragen in den letzten Monaten sind: „Kennst du denn den Auslöser?“ oder: „Weißt du, wie das alles angefangen hat?“. Auch: „Was genau ist denn an deiner Krankheit schuld?“ und: „Dir ist schon klar, dass nur du was daran ändern kannst?“

Fragen über Fragen und nicht einmal habe ich sie beantwortet. Wieso nicht? Ganz einfach: ich wollte die Fragensteller nicht verletzten. Denn diese Fragen kommen immer genau von den Menschen, die der Magersucht geholfen haben, mein Leben zu regieren. Dies wirklich zu erkennen und auch anzuerkennen tut weh. Jeden Tag. Doch nur dadurch schafft man es, sich zu erkennen. Zu sehen, was da wirklich ist, wie man wirklich innerlich und äußerlich aussieht. Es dauert so lange und selbst dann, wenn man denkt, dass man so gut wie raus ist, wird einem klar, dass man gerade einmal am Anfang steht und der Weg steinig, steil und hart ist. Aber der Weg zur Genesung geht bergauf. Nicht immer schnell, eher langsam und stockend und manchmal taumelt man auch zurück. Aber man geht bergauf.

Ich würde sagen, dass ich immer noch ziemlich weit unten am Berg stehe. Ein paar Schritte konnte ich schon vorwärts gehen, aber um noch weitere gehen zu können, muss ich meine Seele erleichtern. Das tue ich, jeden Tag. Ich habe Hilfe. Ich erfahre Liebe, versuche gute und negative Aufmerksamkeit voneinander zu unterscheiden und belohne mich. Aktuell heißt meine Belohnung „Neuer Lebensabschnitt- Studium“. Ich habe mir den Traum vom Studieren erfüllt. Ein Fach, das keiner in meiner Familie anerkennt und zudem mich schon in die Schublade „Brotlose-Künstlerin“ gesteckt hat, mit einem dicken Stempel „Next-Hartz-IV-Generation“ auf der Stirn. Egal. Echt. Denn diese Familie hat mich hier rein getrieben und mir nur noch eine Möglichkeit gegeben auszubrechen; die Magersucht. Sie sind die Fragensteller.

Ich dachte wirklich nicht, dass ich krank bin, aber ich bin’s. Und auch heute, wo keiner auf der Straße sich mehr umdreht und mir fragwürdige, böse und bemitleidende Blicke zuwirft, bin ich noch dieses Mädchen. Diese Frau, gefangen im Käfig der Essstörung, sucht einen Ausweg, eine Tür und will ein anderes Leben. Manchmal lege ich mich auf den Fußboden in meiner Wohnung. Dann denke ich nach, lass mein Gedankenkarusell kreisen und wünsche mir, ich wäre auch so, wie die anderen. Ich möchte auch am DVD Abend eine Pizza verdrücken können und danach noch einen selbstgemixten Cocktail. Ich wünschte, ich würde nicht über die Mandarine nachdenken, die ich zum Frühstück gegessen habe. Ich will, dass meine Gedanken im hier und jetzt sind, bei den Dingen, die mir Spaß machen und bei den Menschen, die ich liebe. Aber dieses Gedankenkarusell läuft im Kreis und sein Gerüst besteht aus meiner Leere. Wie kann ich diese füllen? Wie krieg ich Hoffnung und wie mache ich mir neue, ganz andere Gedanken?

Oft wollte ich einfach raus und dachte über meine Fahrkarten nach; Pillen schlucken, vom Dach springen, sogar Ertränken war in meinem Kopf eine Option. Ich hab’s nicht getan. Ich konnte nicht gehen und auch nicht hier bleiben. Das ist der Horror. Ich war heimatlos. Natürlich denke ich auch heute noch darüber nach und ja, es wäre einfacher gewesen. Doch irgendetwas muss da noch in mir sein, ein kleiner Rest, der leben will, Hoffnung sieht, eine Heimat möchte. Sonst hätte ich in meiner Trance doch mein Leben ausschalten können, das Licht erloschen. Da ist noch ein Funke, ein kleines Etwas, eine kleine zerbrechliche Seele, die stark sein möchte, die glücklich sein möchte, die lebenshungrig ist.

Für dieses kleines Etwas möchte ich leben, denn ich denke, dass das meine Seele ist. Sie hat mich noch nicht aufgegeben, sie möchte in meinem Körper sein und durch mich leben. Sie zieht mich täglich hoch, schleppt mich durch jeden schlechten Tag und begleitet mich auch durch meine guten Studen. Sie ist mir treu. Es ist Zeit, ihr auch etwas wiederzugeben. Dem Körper was Gutes tun, ist ein Teil davon. Doch auch der Kopf muss wieder mitspielen. Dass ich es nicht alleine schaffe, habe ich schon früher erkannt und das ist auch okay. Ich nehme mir Hilfe, denn ich brauche sie, das ist in Ordnung. Ich versuche alles um gesund zu werden, denn das will ich. Wenn ich es auch nicht jeden Tag schaffe, gerade hoch den Berg zu erklimmen, so komme ich doch voran.

Für meinen Körper, meine Seele. Für mich!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 
lebenshungrige Grüße

Simone