Die vierte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Ich bin 21 Jahre alt.

Ich denke, dass meine Geschichte wahrscheinlich schon vor meiner Geburt angefangen hat. Als meine leibliche Mutter mit mir schwanger wurde, ist mein leiblicher Vater gegangen. Er wollte mich eigentlich nie kennenlernen. Meine Mutter wollte damals ein Kind, weil sie unbedingt etwas Eigenes wollte. Etwas, was ihr keiner wegnehmen kann, damals war sie 22. Ich bin zu der Zeit schon durch ziemlich viele Hände gereicht worden. Jede Woche hatte ich eine andere Tagesmutter, wovon nicht jede ’nett und lieb‘ war. Am Wochenende ließ sie eine Vierzehnjährige auf mich aufpassen und war feiern. Eine Zeit lang war ich bei einer Pflegefamilie.

Mit ungefähr drei Jahren lernte ich dann meinen Papa kennen. Kurz nachdem die Beiden sich kennen gelernt hatten, flog meine Mutter nach Amerika um Urlaub zu machen und ließ mich bei ihm. Wenn man bedenkt, dass die zwei sich auch noch nicht lange kannten, war es doch ein recht riskante Nummer, mich bei einem quasi Fremden zu lassen… Aber ich hatte Glück, denn heute bin ich seine geliebte und liebende Tochter.

Im Alter von vier bis neun lebten wir in einem Haus und mit sechs bekam ich eine kleine Schwester. In dieser Zeit habe ich kaum Erinnerungen an meine Mutter. Es ist fast so, als wäre sie kaum da gewesen. Meine Mutter war depressiv und lag im abgeschlossenen Wohnzimmer und die Rollläden waren immer unten. Ich konnte in der dritten Klasse nicht richtig lesen, rechnen oder schreiben, weil sie damit überfordert gewesen war. Mein Papa hat Vollzeit gearbeitet. Meine Großtante hat dann mit mir den versäumten Stoff der ersten Schuljahre aufgearbeitet.

Als ich neun war versuchte meine Mutter sich umzubringen. Nach diesem Tag habe ich sie eine ganze Zeit lang nicht wieder gesehen. Sie war in der Klinik, wo wir sie irgendwann ein paar Mal besucht haben. Danach kam meine Mutter nicht zu uns zurück und meine Eltern trennten sich. Man fragte mich, wo ich bleiben wolle und ich entschied mich für Papa. Ein Jahr lang respektierte man meine Entscheidung, doch dann klagte meine Mutter. Den ersten Prozess gewannen wir, danach ging sie eine Instanz höher. Wir verloren leider, mit der Begründung des Richters ‚Zur weiteren Genesung der Mandantin‘. Ursprünglich wollte sie nur mich, meine Schwester nicht. Sie meinte, dass sie zu viel Arbeit mache. Meine Schwester war zu diesem Zeitpunkt ca. ein Jahr alt. Doch ließ sie sich dazu überreden uns nicht zu trennen. Also zogen wir dann zu unserer Mutter und damit fing das ganze Übel an.

Ich hatte eine Hauptschulempfehlung und versuchte mein Glück trotzdem auf der Realschule. Jede Woche machte meine Mutter Mappen- und Heftkontrolle und brüllte mich stundenlang an, wenn nur ein Datum auf einer Seite gefehlt hat. Ich weiß heute nicht mehr, wie oft ich so manchen Text abgeschrieben habe, weil er nicht ordentlich genug war oder noch ein Rechtschreibfehler auf der Seite war. Vor einer Klausur hat sie mich immer mit Hilfe von Karteikarten abgefragt, ließ mich mehr oder minder aus dem Schulbuch zitieren, Vokabeln manchmal auch rückwärts buchstabieren. Sie schrie mich oft an, was für ein Versager ich sei, dass ich ja absolut nichts könne, dass ich, wenn ich so weiter machte unter der Brücke landen würde, weil sich das Amt in meinem Fall nicht einmal zu Hertz IV herablassen würde.

Eine Woche später brachte ich dann eine eins auf die Klausur nach Hause. Erst dann hob sie meinen Hausarrest auf. Jeden Abend habe ich nach dem Abendbrot bis 21Uhr gelernt, oft länger. Jeden Abends weinte ich mich in den Schlaf. Sie drohte mir immer, wenn ich beim Abfragen nicht alles drauf hatte, am Wochenende nicht zu Papa zu dürfen oder manchmal auch damit, dass ich beim nächsten Hausarrest nicht einmal mehr zur Schule gehen dürfe.

Im Alter von zwölf oder 13 fing ich an zu ritzen und ich konnte mein Hausarrest mit Sport verringern, weil sie mich zu dick fand. Schon damals war ich lieber in der Schule als bei ihr. Die Schule war mein Zuhause. Neben dem ganzen Lernen habe ich auch mit zunehmendem Alter immer mehr den Haushalt geschmissen. Mit Müll fing es an und endete irgendwann mit Müll, Bad, Fenster putzen, saugen, wischen, Wäsche waschen und bügeln. Beim Elternabend in der achten Klasse bekam meine Mutter dann tatsächlich mal ein Abfuhr von meiner Klassenlehrerin. Ich habe ihr aber nie irgendwas von mir erzählt, die hat selbst gemerkt, dass da irgendwas nicht ganz koscher sein konnte. Sie meinte zu meiner Mutter, dass sie mich nicht so schlecht machen solle, denn das sei ich nicht. Sie solle mich mit der Schule ganz allein lassen, denn ich sei zuverlässig und wüsste, was ich tue. Das war mein Freifahrtschein.

Weiter ermöglichte meine Lehrerin mir, wieder Kunst zu machen. Kunst konnte man leider nur als Wahlpflichtkurs machen und meine Mutter wollte aber, dass ich Französisch mache. Also war Kunst erst einmal für mich gestrichen, außer halt Zuhause, wenn sie mit meiner kleinen Schwester jeden Tag weggefahren ist. Sie hat meistens nicht einmal ‚Tschüß‘ gesagt, wenn sie gegangen ist. In der Regel hatte ich Hausarrest und konnte mich, weil sie ja auch Kontrollanrufe gemacht hat, nicht mit Freunden verabreden. Daher nutzte ich die meiste Zeit, wenn nicht zum Putzen oder Lernen, zum Zeichnen. Irgendwann hat meine Klassenlehrerin meine Bilder irgendwie mal in die Finger bekommen und bot mir an, den Kunstunterricht zu besuchen und inoffiziell Unterricht dafür zu schwänzen. Natürlich war dieses Angebot hinfällig, wenn es die anderen Noten runter ziehen würde. Davon hat meine Mutter nie erfahren.

In der neunten Klasse ging ich dann zum Jugendamt. Es gab keinen Tag an dem mich meine Mutter nicht angeschrien hat, weil ich etwas falsch gemacht habe. Ich habe mir mit 15 die Gerichtsunterlagen gekrallt, um herauszufinden, was früher wirklich alles passiert ist. Als ich das mit dem Suizidversuch gelesen habe, bin ich emotional gestorben. Ich log beim Jugendamt und sagte, dass ich ausziehen wolle, weil es nicht anders ginge. Daraufhin kam es zu einem Hausbesuch und ich durfte tatsächlich erst einmal für ein paar Wochen weg. Doch da, wo ich hin kam glaubte mir niemand, was ich über die häusliche Situation erzählte.

Daraufhin bot man mir an, dass ich zu Papa ziehen könnte. Der Typ beim Jugendamt machte sich Sorgen, da ich das mit dem Ritzen erzählt habe. Doch ich lehnte ab. An dem Tag, an dem ich beschloss zum Jugendamt zu gehen, habe ich mich für noch etwas entschieden. Mir war klar, dass meine Schwester meine Rolle übernehmen muss, wenn ich nicht mehr da bin. Bis jetzt war es so, dass unsere Mutter ‚gute und schlechte‘ Laune auf uns aufteilte. Bei mir die schlechte und bei meiner Schwester die gute. Ich habe mir überlegt, dass es besser für uns beide wäre, wenn ich bliebe. Ich wollte nicht, dass meine Schwester das selbe durchmachen musste, wie ich. Ich rechnete einfach Gesamtschaden durch zwei… Bis zu meinem achtzehnten Geburtstag wollte ich meine Schwester dazu bringen, selbstständig zu denken, zu werten, damit sie wenigstens ein bisschen klar kommt, wenn ich weg bin. Also zog ich wieder bei den beiden ein und habe mein Ziel erreicht. Meine Mutter hatte Angst davor, dass ich wieder zum Amt ginge. Ich hatte ihr gezeigt, dass ich nicht wehrlos war.

Mit 15 verlor ich mich dann auch zunehmend im Sport. Ich stand morgens um fünf Uhr auf und ging laufen. Ich musste den Kopf frei bekommen, damit ich mich später auf den Unterricht konzentrieren konnte. Die Lehrer ließen mir inzwischen freien Lauf in allen Dingen. Ich brauchte keine Unterschriften mehr für Klassenarbeiten und mein Zeugnis unterschrieb meine Mutter eh nicht, da es ihr – egal wie viele Einsen darauf waren – immer zu schlecht war. Seit der achten war sie auch nicht mehr bei einem Elternsprechtag.

Da meine Mutter tagsüber immer mit meiner Schwester und ihrer Freundin weg war und ich Zuhause blieb, hatte sie irgendwann nur noch abends beim Abendbrottisch die Gelegenheit mich anzubrüllen, da ich ja danach bis in die Nacht hin meistens gelernt habe. Also verlagert ich mein Abendbrot zu vorher oder nachdem die beiden gegessen hatten zu essen. Wenn ich vor den beiden aß zitierte sie mich häufig runter und brüllte mich an, dass ich den beiden alles wegessen würde. Zu dem Zeitpunkt war ich schon Vegetarier und beschränkte mich recht stark auf die Lebensmittelgruppen, die die beiden nicht so gerne aßen. Habe ich nach den beiden gegessen, hieß es immer: „Mach uns doch noch einmal was mit!“ Ich hatte aber absolut keinen Bock mich für diese Frau noch in die Küche zu stellen. Also stellte ich das Abendbrot mit 16 komplett ein. Meine Mutter hat aber auch vorher immer schon kaum Gemüse oder so gekauft, sie hatte immer vergessen, dass ich ja kein Fleisch und keinen Fisch esse.

Zum Zeitpunkt der Abschlussprüfungen ging ich in den Essensstreik. Zur gleichen Zeit wollten ein paar Mädchen aus meiner Klasse und ich abnehmen. Das passte mir ausgesprochen gut. Unser Ziel waren 50 Kilo. Ich aß 14 Tage nichts und trank nur Wasser. Ich nahm in dieser Zeit zwölf Kilo ab. Ich hatte es also leider nur von 65 auf 53 Kilo geschafft. Eine Freundin meiner Mutter sprach sich darauf an, dass ich halt viel abgenommen hatte und wollte wissen, ob es mir nicht gut ginge. Die einzige Reaktion war: „Wieso, nicht das ich wüsste… Warum fragst du? Endlich ist Sofia mal hübsch. Endlich ist sie schlank und sieht gut aus.“ Ich dachte mir nur, als ich das beim Lauschen mitbekommen hatte ‚Alter jetzt erst Recht!‘

Immerhin hatte ich meine Mutter so weit gekriegt, mich abends raus zu lassen. Ich wurde oft von meinem besten Freund aus der Feuerwehr abgeholt. Sie sagte mir häufig, dass ich eine Straßenschlampe sei, da er eine ganze Ecke älter ist als ich. Alle meine Freunde sind wesentlich älter als ich. Ich interessiere mich einfach für mehr als nur die nächste Abifete und das letzte Sauferlebnis.

Natürlich ist auch meine Schwester älter geworden und es traten langsam aber sicher die gleichen Probleme wie bei mir auf. Immer wenn Mama sie fertig gemacht hat, habe ich ein paar Minuten an der Treppe gestanden und gewartet. Solange, bis meine Schwester anfing zu weinen oder kurz davor war. Ich wollte sie lernen lassen. Wenn es mit Leid genug tat, bin ich runter gegangen und habe meine Mutter provoziert. Danach war ich im Fadenkreuz und meine Schwester war raus. Meine Mutter drohte mir zu dieser Zeit auch häufiger an, mich zu Ohrfeigen.

Ich schaffte dennoch erfolgreich meinen erweiterten Realschulschulabschluss und wechselte auf die gymnasiale Oberstufe der Gesamtschule. Zwei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag war ich dann weg. Ich bin in meine eigene Wohnung gezogen. Es war eine Nacht- und Nebelaktion, ins kleinste Detail vorgeplant und durchgezogen. Nach meinem Auszug ging es mir tatsächlich ein paar Monate lang gut. Mein leiblicher Vater weigerte sich mir das zu zahlen, was mir eigentlich an Unterhalt zustand. Ich hatte genug vorher angespart, sodass ich mir eigentlich erst einmal keine Sorgen machen musste, aber ich glaube trotzdem, dass das ein Teil des Anfangs der schlaflosen Nächte gewesen sein könnte…

In der Zwölften wählte ich dann meine Kurse. P1 Physik, P2 Bio, P3 Deutsch, P4 Mathe, P5 Geschichte. Ich wollte unbedingt Physik studieren. Mit zunehmender Schlaflosigkeit konnte ich mich allerdings immer weniger konzentrieren. Ich versuchte mich nach der Schule ‚müder‘ zu joggen und lief irgendwann zehn Kilometer täglich. Ich verlor an sämtlichen Dingen die Lust und die Leidenschaft. Alles war irgendwie so voraus geplant und festgelegt. „Ich mache Abi und studiere Physik.“ Doch im Moment drohte aus dem einzigen, auf das ich seit Jahren hinarbeite, nichts zu werden. Es gab einfach nicht mehr als lernen und Sport.

Ich verzweifelte an den simpelsten Dingen und ging in der Schule in den Unterricht rein und raus und konnte mich nicht mal mehr an das Thema erinnern, um das es ging. Jede Nacht wurde zu einem Albtraum. Ich aß immer weniger. Ich verlor den Appetit. Ich schloss mich teilweise am Wochenende in meiner Wohnung ein, weil ich nicht wollte, dass man mich so sah. Das Hungern linderte wenigstens ein bisschen den Schmerz. Irgendwann entwickelten sich meine Albträume zu Tagträumen: Ich, hängend an einem Baum. Ich bekam Angst vor diesen Fantasien, Angst vor mir. Ich hatte mich schon einige Zeit zuvor einer Gruppe ‚Anas‘ angeschlossen. Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin, aber ich dachte, wie bereits mit 16: 50 Kilo und alles ist perfekt.

Am Tag der aktuellen Notenvergabe in Physik brach ich vor meinem Lehrer dann in Tränen aus. Ich war am Ende, ich konnte nicht mehr. Er schien leicht überfordert und fragte mich, ob ich schon mit meinem Tutor über diese ganze Sache gesprochen hätte. Ich verneinte, aber ich hatte es für diesen Tag geplant. Wir hatten uns nach der sechsten Stunde in seinem Büro verabredet. Im Nachhinein finde ich es schon recht interessant, dass ich genau an dem Tag in Tränen ausgebrochen bin, als beschlossen hatte nicht länger zu schweigen. Heute scheint es mir so, als hätte ich an diesem Tag losgelassen.

Im Büro meines Tutors habe ich dann endlich angefangen auszupacken. Mittlerweile war es nicht mehr nur Hungern, sondern ausgeprägte Fressanfälle mit Erbrechen und Hungern. Er war so unglaublich nett zu mir und versucht mich dazu zu bringen bei einer Beratungsstelle anzurufen. Doch ich traute mich leider nicht. Er bot mir an, es für mich zu übernehmen. Er wählte die Telefonnummer und wartete darauf, dass ich ein ‚Ok‘ oder irgendetwas ähnliches von mit gab. Was ich dann auch tat. Ich glaube heute, dass es genau das war, was mich dazu geleitet hat mich ihm zu öffnen. Er hat mir damals gesagt, dass er höchstens das Sprungbrett für mich sein könne. Und genau das war er auch für mich. Er hielt mir den Rücken von meinen anderen Kurslehrern frei. Durch ihn habe ich mein Verhalten verstanden. Zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs mit meinem Tutor habe ich nicht verstanden, dass ich essgestört war/bin. Viel später, in der Klinik, habe ich erst begriffen, dass ich Bulimikerin bin.

Ich habe über diese Zeit von 2012 bis ich in die Klinik gegangen bin ausführlich geschrieben. Vor einigen Tagen habe ich endlich mein Skript beenden können und bin nun auf der Suche nach einem Verlag. Der Titel lautet bis jetzt noch ‚Und ich werde nie wieder Lügen‘, da ich mich sehr genau mit meinen letzten zehn Jahren auseinandersetze und mir irgendwann auffiel, wie oft ich belogen wurde, ich mich selbst belogen habe oder auch andere belügen musste, um mit dieser Erkrankung überhaupt leben zu können.

Heute bin ich stolz auf mich und breche mein Schweigen.

Das Leben ist das, was ich daraus mache. Das ist jetzt mein Erfolgsrezept.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone