Auch wenn du deine Umgebung wechselst, nimmst du dich mit

Schon als kleines Kind hatte ich nie Heimweh wenn ich unterwegs war und häufig Fernweh wenn ich zu Hause war. Und ich erinnere mich noch recht genau daran, dass ich mir als Jugendliche eine GEO-Spezial-Ausgabe  über Kalifornien kaufte und darin rettungslos verloren ging.

Spätestens von diesem Zeitpunkt an war es mein Wunsch, einmal in die USA zu reisen und die Golden Gate Bridge aus nächster Nähe zu sehen und die endlosen Strände von sunny California zu erkunden. Ich hätte gern ein Schuljahr in den USA verbracht, doch das war finanziell nicht machbar und so beschloss ich, als Au-Pair über den großen Teich zu gelangen.

Diese Sehnsucht nach dem Unbekannten und meine Abenteuerlust waren so groß, dass mich tatsächlich nicht mal meine chronischen Selbstzweifel davon abhalten konnten.

Doch als ich mich dann auf den Weg machte, hatte dieser extreme Wechsel meiner Umgebung noch einen anderen Zweck: Ich hoffte, dass ich meine Essstörung – die ich zu diesem Zeitpunkt bereits über drei Jahre hatte – zu Hause lassen würde. Ich dachte mir, dass ich – weit weg von der symbiotischen Beziehung zu meiner Mutter und sämtlichen anderen alten Problemen – quasi automatisch perfekt würde essen können und alles irgendwie laufen würde.

Neue Umgebung – alte Probleme

Und zunächst sah es genau so aus. Es „funktionierte“ ungefähr so lange, so lange mein Kulturschock anhielt. Oder anders ausgedrückt: Mit dem Alltag kam auch die Essstörung wieder. Alltag bedeutete nicht nur, dass ich mich daran gewöhnt hatte, tagtäglich auf einen hyperaktiven Fünfjährigen und eine divenhafte Dreijährige aufzupassen. Alltag bedeutete vor allem, dass ich mir eine ähnliche Umgebung schuf wie ich sie von zu Hause kannte, weil ich mich genau so verhielt, wie ich mich zu Hause verhalten hatte.

Auch in den USA war ich nicht in der Lage, angemessene Grenzen zu setzen, „nein“ zu sagen, wenn ich „nein“ meinte, meine Meinung zu äußern und dazu zu stehen, mich angemessen um meine Bedürfnisse zu kümmern. Konkret bedeutete dass, dass ich mich nicht über die Ungerechtigkeiten und Unmöglichkeiten äußerte, die ich in meiner Gastfamilie erlebte, sondern brav alles schluckte und meine Klappe hielt. Und ich schluckte wirklich viel, vor allem aus dem Vorratsschrank…

Nach ungefähr zwei Monaten war die Bulimie also wieder da und sie blieb mir dann auch für den Rest meines sechsmonatigen Aufenthalts treu.

Neue Umgebung – neue Erfahrungen

Und trotzdem war dieser längere Auslandsaufenthalt sehr wichtig für mich. Denn ich lebte in einer anderen Kultur, sprach sechs Monate lang ausschließlich Englisch und ich lernte andere junge Menschen aus ganz Europa und aus den USA kennen. Und das machte meine persönliche Welt einfach größer.

Doch vor allem lernte ich sehr viel über mich: Ich gestand mir ein, dass ich vor der Essstörung nicht davon laufen kann, da ich mich selbst überall hin mitnehme!

Ich verstand, dass ein Ortswechsel alleine zwar hilfreich ist, aber ohne die entsprechende ehrliche Auseinandersetzung mit mir selbst, beziehungsweise mit den Ursachen meiner Probleme, nicht ausreicht. Und ich begriff, dass mir die Essstörung als Überlebensstrategie half, in dieser neuen Umgebung klar zu kommen. Ich brauchte sie. Dadurch erkannte ich, dass es gar nicht um das Essen an sich ging, sondern um die Funktion, die es für mich erfüllte.

Neue Umgebung – neue Heimat

Da ich als Au-Pair in Maryland landete, hängte ich nach den 6 Monaten noch 10 Tage New York und 4 Wochen Kalifornien hinten dran. New York war toll, doch Kalifornien liebte ich. Und ich liebe es bis heute. Dadurch habe ich vor allem gelernt, wie wichtig es ist, meiner Intuition, meinen innersten Wünschen zu folgen. Ich konnte nie rational erklären, warum ich dorthin wollte. Doch es hat mir jedes Mal einfach nur gut getan, da zu sein. Denn nach meinem Au-Pair-Abenteuer war ich während der folgenden Studienjahre in den Semesterferien noch weitere drei Mal in Kalifornien.

Ich fühle mich dort irgendwie zu Hause und ich habe die Erfahrung gemacht, dass es weitere Orte gibt, an denen das so ist. Und ich muss auch gar nicht wissen, warum das so ist, ich genieße es einfach, mich wohl zu fühlen.

Doch auch wenn ich an Orte reise, die mich nicht so anziehen, mag ich die Erfahrung des Reisens. Die Umgebung zu wechseln bedeutet immer, Abstand zum Alltag zu bekommen und neue Eindrücke zu sammeln. Und das ist in jedem Fall bereichernd und macht mich innerlich satt.

Hast du schon mal bewusst deine Umgebung gewechselt und welche Erfahrungen hast du in Bezug auf deine Essstörung dabei gemacht?

lebenshungrige Grüße

Simone