Die achtundfünfzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Fast immer, wenn ich über essgestörte Frauen lese oder höre, handelt es sich dabei um noch recht junge Frauen. Frauen, die noch auf der Suche nach sich selbst sind – oft noch mitten in der Pubertät. Als meine Essstörung begann, war ich lange aus der Teenagerzeit heraus. Darum scheint es mir wichtig auch einmal diese Seite der Essstörung zu zeigen:

Ich war das, was man wohl als eine „gestandene Frau“ bezeichnet. Anfang 40, „glücklich“ geschieden, zwei gut geratene Kinder und beruflich erfolgreich. Man sagte mir auch eine gewisse Attraktivität und eine gute Figur nach. Also nach Außen hin alles perfekt. Was niemand ahnte, war die Verzweiflung und der Kampf, der sich dahinter versteckte.

Ich wollte so gerne perfekt sein und alles unter Kontrolle haben. Es gab kaum eine Ernährungs- oder Fitness-App, die ich nicht auf meinem Smartphone hatte. Akribisch trug ich dort jeden Happen und jeden Schritt ein. Darüber hinaus habe ich verschieden Listen und Excel-Tabellen geführt. Alles um meine Ernährung, meine Figur, mein Gewicht unter Kontrolle zu haben. Ich war die Sklavin meiner eigenen Regeln geworden. Ich hatte mir ein Gefängnis gebaut, in dem ich fest saß. Mein ganzes Denken und Handeln drehte sich immer mehr um das Einhalten meiner „Regeln“ und dem Erreichen/Erhalten eines bestimmten Gewichtes.

Tage, Einladungen, fast alles wurde von mir nach diesen Kriterien beurteilt. Hatte ich mich an alle Ge- und Verbote gehalten und die Waage zeigt an, was ich sehen wollte, war es ein guter Tag und ich fühlte mich stark und sicher. Aber wehe dem war nicht so – dann brach alles in mir zusammen. Ich fühlte mich schwach, hilflos und als totale Versagerin. Kein Mensch hat sich immer unter Kontrolle und je strenger ich mit mir war, desto extremer wurden auch die Fressanfälle und das Erbrechen. Das Erbrechen habe ich am meisten gehasst, aber ich meinte es muss sein, um die Kalorien wieder loszuwerden und das um alles gefürchtete Zunehmen zu verhindern.

Erst viel später ist mir klar geworden, dass es das Leben an sich war, was ich gerne kontrollieren wollte und das alles andere nur ein Ersatz dafür war. Aber das Leben kann man nicht kontrollieren. Das Leben muss man leben. Es gibt Höhen und es gibt Tiefen doch ein Blick in die Vergangenheit zeigt meist, dass sich all das meistern und überwinden lässt.
Heute lasse ich mich jeden Tag neu vom Leben überraschen. Freue mich auf Neues und habe keine Angst mehr vor Veränderungen.

Allerdings hat der Weg zu dieser Erkenntnis und dann zur Umsetzung einige Jahre gedauert und war nicht immer einfach.

Aber es hat sich gelohnt. Heute kann ich das Essen, Verabredungen und das Leben wieder genießen. Ich trage nicht mehr Größe 34, mein Körper hat sich ein wenig verändert, aber ich fühle mich wohl in ihm. Es ist meiner und er ist gut genauso wie er ist. Er ist einzigartig – genau wie das Leben.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone