Die dreiundvierzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Nein, ich schreibe dies nicht um Mitleid zu bekommen. Mitleid macht mich nicht mehr gesund. Doch ich wünsche mir, etwas mehr Aufmerksamkeit auf das Thema Magersucht lenken zu können. Umso früher es erkannt wird, umso besser die Heilungschancen. Jeder Tag in der Magersucht schwächt dich. Nimmt dir Lebensfreude. Du verlierst von Tag zu Tag immer mehr den Bezug zur Normalität. Deswegen meine Bitte: Handelt, wenn ihr denkt, jemand ist essgestört. Es kann sonst zu spät sein….

Auch bei mir war es kurz vor knapp. Ich muss sagen, ich hatte schon immer ein gestörtes Verhalten zum Essen. Schon als Kind war ich eher moppelig. Seit der frühen Kindheit kann ich mich an Probleme in der Familie erinnern. Mir fehlte eine Bezugsperson, ich wurde immer wieder enttäuscht und statt mir das, was ich seither gesucht und erhofft habe zu geben, nämlich Aufmerksamkeit und Liebe, gab es Abweisungen und psychischen Missbrauch.

Schnell suchte ich eine Ersatzbefriedigung. Das Essen. Schon in der Grundschule war ich adipös, es wurde immer schlimmer und dementsprechend auch das Mobbing meiner Mitschüler und aus der Familie. Um all dem zu entgehen aß ich mir einen immer dickeren Schutzmantel an, bis ich letztendlich 106 kg bei 1,69 m wog. Anfangs schaffte ich es auf gesunde Weise abzunehmen, doch mir fehlte der Zufluchtsort für meine Probleme zu Hause. So begann die Bulimie. Jeder Fressanfall lies mich für einige Minuten meine Sorgen vergessen, auch wenn ich mich schon währenddessen für das geekelt habe, was danach folgte. Doch der Ekel passte zu dem, wie ich mich eh schon fühlte. Ekelig, nichtsnutz, ungeliebt und nicht gebraucht.

Parallel dazu begannen immer schlimmere Depressionen und ich fing an mich zu ritzen. Doch das war scheinbar alles nicht genug um die Schmerzen auszuhalten, die der Alltag mit sich brachte. Die Situation daheim wurde immer schlimmer, ich musste nach außen hin die Vorzeigetochter darstellen, gute Noten bringen um zumindest hierfür ein Lob zu bekommen. Nach außen war ich stark, hatte vielseitige Hobbys, war engagiert, hatte Freunde, nahm erfolgreich hab, meine Noten wurden immer besser.

Doch innerlich zerbrach ich immer mehr. Ich sehnte mich so sehr nach Liebe, Aufmerksamkeit, Nähe. Dann fasste ich den Entschluss: Ich muss weiter abnehmen! Schon seit ich adipös war, war ich der Überzeugung, nur wenn man schlank ist wird man geliebt. Zu dem Zeitpunkt war ich 15 Jahre alt und eigentlich normalgewichtig inzwischen. Doch das sah ich nicht mehr. Ich sah nur noch mein Ziel: abnehmen und ENDLICH geliebt zu werden!

Und dann fing es an… Im Januar 2007 schrieb ich in mein Tagebuch, dass ich abnehmen will, mehr Sport, noch weniger essen. Ich reduzierte meine Kalorien immer weiter, 1000, 600, 300, 100, 50, 20, 5… Zudem stieg das Maß an täglicher Bewegung immer weiter an. Meine Bulimie hatte sich zu dem Zeitpunkt verabschiedet. Zu groß die Angst von mir, dass irgendwas im Magen bleiben würde. Und dann begann der Alptraum. Sport und die Gedanken an das Essen dominierten meinen Alltag. Ich zog mich immer mehr zurück, hatte kaum noch sozialen Kontakt. Ich hungerte mich immer weiter in Richtung Tod, bis meine Ärztin mich in eine Klinik einwies. Dort ging es mir kurzzeitig sogar besser.

Der Abstand von meinem Zuhause tat gut, auch wenn ich meine Schwester sehr vermisste. Doch ich wollte gesund werden, kämpfte, nahm zu. Bis ich wieder daheim war. Auch wenn sich zu Hause die Situation bis dahin geändert hatte, mein Vater war ausgezogen, ein mir bekannter Gedanke saß wieder tief : ich will abnehmen, erfolgreich sein, mir beweisen, was ich kann. Und so begann die Fahrt in die Hölle. Ich trainierte stundenlang zu Hause, ging laufen, aß so gut wie nichts, schlief absichtlich wenig um mich mehr bewegen zu können usw. Ich war nicht mehr ich. Ich war die Magersucht in Person.

Was mir zuvor was bedeutete, war mir egal. Es ging nur um ein Thema: Abnehmen. Dann kam mein Schicksalstag. 11.11.2007. Ich war dem Tod näher als dem Leben. Ich wog 29 Kilo, 77 Kilo weniger als noch 2004. Mein Körper war ausgemergelt. Mein Herz war geschwächt, ich hatte keinerlei Kraft mehr. An diesem Tag kam ich per Krankenwagen auf die Intensivstation. Die Ärzte konnten nichts tun, außer hoffen. Wie meine Familie auch. Ich wurde ins künstliche Koma versetzt. Wenige Tage darauf wachte ich das erste mal wieder auf, sah meine Schwester neben meinem Bett sitzen. Das beruhigte mich.

Doch ich verstand die Welt nicht mehr. Mir wurde eine Magensonde gelegt und innerhalb weniger Wochen nahm ich viele Kilos zu. Im Nachhinein weiß ich, dass das mein Leben rettete. Damals wollt ich nur noch eines: heim! Ich verbrachte den ganzen Advent, eine meiner Lieblingsjahreszeiten, im Krankenhaus. Aber dieses Erlebnis änderte einiges in mir.

Auch wenn ich seither immer wieder Höhen und Tiefen erlebt habe, jahrelang in Therapie war und noch immer bin, eines weiß ich sicher : ich bin stärker als sie! Ich habe seither einiges zugenommen, auch wenn ich noch lang nicht normalgewichtig bin. Auch psychisch geht es mir noch nicht gut, Aber besser, deutlich besser. Ich lache wieder, habe erkannt woher alles kam, was ich ändern muss, was ich loslassen muss.

Ich esse wieder 5 mal am Tag, verbiete mir keine Nahrungsmittel mehr, genieße es wieder. Im Normalfall. Gerade bin ich wieder dabei das Essen zu steigern, um endlich vollends ein gesundes Gewicht zu erreichen. Das sind die härtesten Zeiten. Man fühlt sich unwohl, es plagen einen schlechtes Gewissen und dumme Gedanken. Es ist hart. Richtig hart. Man kommt an seine Grenzen. Immer wieder will ich aufgeben, habe Angst, ich werde nicht mehr gesund.

Aber dann denke ich wieder daran, was ich in den neun Jahren Kampf gegen die Magersucht schon erreicht habe und dass ich noch vieles erleben will. Mit meiner Schwester und meinem Freund, die ich gleichzeitig auch nicht im Stich lassen will. Und dann kommt wieder ein kleiner Funken Hoffnung auf Genesung und vor allem eines : WUT! Nicht mehr auf mich, sondern die Krankheit. Sie hat mir schon neun Jahre meines Lebens genommen. Es reicht. Ich will da raus. Und ich hoffe, bald nochmals einen Text schreiben zu können in dem ich schreibe „ Es war die Hölle, aber nun ist´s vorbei…“.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone