Die neunundfünfzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Alles fing im Oktober 2012 an, ich beschloss abzunehmen, aber irgendwie funktionierte die Diät nicht so wie ich das wollte.

Ich schrieb immer mit einer aus dem unteren Jahrgang, sie gab mir den Tipp, einfach nach dem Essen zu erbrechen und ich weiß noch ganz genau, dass es der 18 Oktober war, an dem ich mir zum ersten Mal den Finger in den Hals steckte.

Ich fühlte mich gut, mächtig und war stolz auf mich. Jedoch merkte ich, dass es sich nicht wirklich lohnt, für ein Brot zu brechen, also waren die Fressattacken vorprogramiert. Ich aß dann meistens viele andere Sachen, jedenfalls wog ich nach jeder Essattacke 3-4 kg mehr.

Zudem fing ich wieder mit der Selbstverletzung an. Ich hatte mich das erste mal mit 11 Jahren selbstverletzt, ich war ein starkes Mobbingopfer, hatte keine Freunde und ernst genommen hat mich sowieso schon mal gar keiner. Diesmal entstanden aber schon kleine Schnitte, doch ich merkte kaum Schmerzen.

Ich begann im September 2013 eine ambulante Therapie und war auch sehr schnell im Krankenhaus mit der Diagnose Magenschleimhautentzündung, klar kein Wunder bei 3-4 mal erbrechen am Tag.

Ich entschied mich zu einer stationären Therapie und war im November 2013 das erste mal in einer Klinik, verbrachte dort Weihnachten und allgemein eine schöne Zeit. Zum ersten Mal hatte ich ein Gefühl von Familie und musste bei meiner Entlassung im Januar 2014 bitterlich weinen.

Jedoch hatte ich 3 Wochen nach der Entlassung wieder einen Rückfall mit der Selbstverletzung und kurze Zeit später verringerte ich das Essen und nahm langsam aber sicher wieder ab.
Das Ritzen nahm auch zu und ich schämte mich fürchterlich, dass ich es nicht geschafft habe gesund zu werden.

Zudem fing es an Sommer zu werden und ich ging mit meinen Narben sehr offen um, weshalb ich sehr viele Sprüche und Demütigungen ertragen musste, jedoch nicht von den Mitschülern aus meiner Klasse, die standen immer hinter mir. Auch meine Klassenlehrerin, zu der ich ein sehr gutes Verhältnis hatte.

Ich vertraute ihr einiges an, wir redeten sehr oft und ich habe mich beachtet und ernst genommen gefühlt. Aber auf einmal wurde sie total kalt zu mir und ich habe die Welt nicht mehr verstanden, teilweise haben wir richtig gestichelt und uns gegenseitig runter gemacht. Ich war bitter enttäuscht.

Ich kam jetzt öfter ins Krankenhaus, da ich sogar das Trinken verweigere und hatte ich  300g zugenommen, gab es sofort eine „Abführpillenparty“. Erst nahm ich 3 Dragees und später gut um die 20-30 Dragees auf einmal. Und wenn mein Taschengeld aufgebraucht war, griff ich zu „hausgemachten“ Abführmitteln. Ich danke meinem Körper heute echt dafür, dass mein Darm noch so gut funktioniert.

Im Oktober bekam ich zum ersten mal eine Magensonde, kurz darauf kam ich wieder in eine Klinik. Die Zeit war zwar wieder mal ganz schön, aber sehr sehr anstrengend, gerade weil mein über alles geliebter Opa am 26.12.2014 an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstarb. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens und ich will bis heute nicht wahrhaben, dass er tot ist. Nein ich denke eher, dass er irgendwo untergetaucht ist und irgendwann wieder kommt und sagt, dass alles nur ein fieser Scherz war. Obwohl ich eigentlich weiß, dass er tot ist, ich habe ihn doch mit meinen eigenen Augen gesehen und seine Urne mit meinen Händen ins Grab herab gelassen.

Im Januar 2015 wurde ich aus der Klinik entlassen. Ich hatte noch nie so viel Lebensfreude, hatte etwas zugenommen, bestand im März noch meinen Führerschein und auch eine Tumorentfernung im Ohr brachte mich nicht aus der Ruhe.

Die Stimmung kippte jedoch wieder im Mai. Ich hatte furchtbaren Streit mit meinem Stiefvater, weil er behauptete, ich hätte Bonbons von ihm gegessen. Wir haben uns extrem fertig gemacht und ich habe nicht mit ihm geredet. Hat er ja auch nie gemacht, mehr als „Hallo“ und „Tschüß“ sprachen wir eh nicht mit einander. Ich weiß nicht, ob er mich nie mochte oder ob er keine Lust hatte, aber ich fand das ziemlich mies von ihm. Irgendwann setzte ich Mama die Pistole auf die Brust und – naja – schließlich bin ich ausgezogen.

Nach den Sommerferien wiederholte ich das erste Ausbildungsjahr, welches schon stressig begann. Zwei Tage vorher hatte ich einen Autounfall, ich hatte ein paar Schrammen und einen Schock. Nur mein Auto war reif für die Schrottpresse und das alles nur, weil die Gegnerin betrunken gefahren ist.

Also verkroch ich mich wieder in die Anorexie, aß kaum noch, fing an mich wieder zu schneiden. Irgendwann sprach meine Klassenlehrerin mich darauf an. Ich hatte jedoch panische Angst, dass sie nach einer Zeit genauso eiskalt wird, wie die vorherige. Sie war aber total anders, sie quälte nichts aus mir heraus und ich fing an, mich ihr anzuvertrauen. Sie gab mir das Gefühl nicht alleine zu sein, wir schrieben uns regelmäßig E-Mails und gingen ab und zu nach der Schule zusammen den Rückweg, da ihre Wohnung auf dem Weg zu meinem Auto lag.

Im November eskalierte alles und ich versuchte mich umzubringen, wachte im Schockraum auf, als man mir einen Katheter legen wollte. Ich bekam eine Panikattacke. Ich dachte, mein Bruder tut es wieder ich, dachte er vergewaltigt mich wieder. Ich hatte Angst und schrie, doch die Ärzte motzen mich an und fixierten mich. Ich habe seit dem panische Angst vor Krankenhäusern.

Auch das Verhältnis zu meiner Klassenlehrerin fing an im Januar zu bröckeln. Ich fragte sie immer wieder warum und sie erklärte es mir und ich konnte sie verstehen, sie war gerade neu als Lehrerin und wusste wahrscheinlich nicht, welche Konsequenzen sie bekommen könnte, aber ich fühle mich wieder fallen gelassen. Sie ist mir mega wichtig und gibt mir einfach so viel Halt. Aber irgendwie scheine ich auch ein Problem in der Bindung zu haben. Ich kann mich einfach nicht ent-binden, liege hier abends teilweise, heule und denke mir, dass mich entweder meine Psychologin oder meine Lehrerin aufnehmen muss. Ich fühle mich so alleine hier in der Wohnung.

Im Februar bekam ich schließlich schreckliche Zahnschmerzen und ging zum Zahnarzt. Ich hatte total kaputte Zähne durch die Essstörung und durch Veranlagerungen. Außerdem habe ich eine Zahnarztphobie und war seit acht Jahren nicht mehr beim Zahnarzt. Es war so viel zu machen, dass ich zwei Behandlungen mit Vollnarkose brauchte. Also sind wir zu einem speziellen Zahnarzt und als erstes wurden mir vier Weisheitszähne und ein abgebrochener Eckzahn gezogen, kurze Zeit später ein weiterer Backenzahn. Zwei OPs stehen noch an, noch ist nicht sicher, welche Zähne ich behalten kann und welche nicht.

Ich stecke zwar noch voll und ganz in der Essstörung drin, aber – liebe Mädles und auch liebe Jungs – sobald ihr merkt, dass ihr ein Problem mit dem Essen habt, sucht euch Hilfe, denn ein Leben mit einer Essstörung ist nur ein vor sich hin vegetieren.

Ich glaube an euch!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone