Die sechzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich bin aktuell in einer Klinik und kämpfe gegen die Essstörung, gegen den Teufel in mir. Es ist wahrscheinlich das Mutigste was ich je gemacht habe, gegen mich selbst zu kämpfen, zu kämpfen für ein besseres Leben, für Lebensqualität.

Ich habe im Laufe meines Aufenthalts ein bisschen was geschrieben…

Ich habe große Verlustängste und den Zwang immer fehlerlos sein zu müssen.

Die Kontrolle über mein Essverhalten und meinem Körper gaben mir die Sicherheit, die ich immer gesucht habe und ein Machtgefühl welches ich sonst nicht kannte.

Ich fing an, extrem viel Sport zu machen. Ich hatte eine 40-Stunden-Woche. Ich bin morgens um 5 Uhr aufgestanden, habe bis 18 Uhr gearbeitet und bin danach immer zwei Pferde geritten. Am Wochenende bin ich immer um 5 Uhr morgens im Stall gewesen. Dort habe ich dann drei Pferde geritten, sieben Pferde gefüttert, rausgebracht und die Boxen gemacht. Anschließend bin ich joggen gegangen, im Sommer extra mittags.

Ich habe meinen Tagesablauf komplett auf Sport fixiert um um das Essen herum zu kommen. Die Kontrolle wurde immer unkontrollierbarer. Eigentlich ist die Kontrolle kontrolliert außer Kontrolle geraten. Ich war nie zufrieden mit mir und bin es immer noch nicht. Ich bin extrem perfektionistisch und selbstkritisch. Der starke Wunsch nach Kontrolle über den eigenen Körper kommt daher, weil man denkt, dass es das einzige ist, was man gut kann. Deshalb ist die Kontrolle über den eigenen Körper wie eine Sucht.

Und jetzt? Jetzt hat mich die Essstörung unter Kontrolle, ich kann es nicht mehr kontrollieren. Es passiert fast wie selbstverständlich, dass ich nach dem Essen erbreche. Ich muss richtig kämpfen, das es drinnen bleibt und das ich es überhaupt runterbekomme. Die Essstörung ist so präsent, sie nimmt mich mit in die vermeintliche Welt der „Perfektion“. Sie ist fordernd, sie zerstört mich. Die Tage bestehen aus essen, sich schuldig fühlen, erbrechen und hungern. Es ist wie ein Karussell, was nicht anhält.

Die Essstörung ist für mich wie ein Baumstamm in einem reißenden Fluss. Am Anfang war der Baumstamm lebensnotwendig um nicht zu ertrinken, aber jetzt steuert er gerade zu auf einen Strudel, der mich in die Tiefe zieht, wenn ich nicht rechtzeitig den Baumstamm loslasse und an das rettende Ufer schwimme. Und der Zeitpunkt ist jetzt. Denn so wie es jetzt ist, ist es kein Leben mehr.

Liebe Magersucht, liebe Bulimie, dies ist ein Abschiedsbrief, mein Abschiedsbrief an dich:

Du warst immer da, hast mich nie verlassen, hast mir wieder Halt und Selbstvertrauen gegeben.

Du bist hart und fordernd, hast mich in die vermeintliche Welt der „Perfektion“ mitgenommen.

Auch wenn ich das gar nicht wollte. Aber irgendetwas, irgendwen habe ich gebraucht. Du bist meine größte Feindin, meine ständige Begleiterin, meine beste Freundin. Es ist ein ewiges hin und her. Man hat Streit mit seinem eigenen Körper und hasst ihn und an seltenen Tagen versöhnt man sich ein kleines bisschen, doch dann geht man wieder zwei Schritte zurück. Du wirst dann wieder so präsent. Ständig, 24/7 am Tag, die Woche. Bevor und gerade beim Essen bist du so stark präsent, flüsterst mir ins Ohr, wie viele Kalorien ich gerade in mich hinein stopfe. Nach dem Essen folgt dann das Erbrechen. Du flüsterst mir ins Ohr, dass ich mit jeder Gabel fetter und fetter werde, dass ich schon fett bin und jetzt aufgehen werde wie ein Hefekloß.

Wenn ich probiere dich zu ignorieren wirst du lauter und lauter und fängst an zu schreien. Du sorgst dafür, dass ich anfange mich vor meinem eigenen Körper zu ekeln. Die Schuldgefühle sind so groß, …

Du hast mich in der Hand, du hast alles unter Kontrolle. Während der Bauch nach Essen schreit, brüllst du, dass ich es unterdrücken soll, den Hunger lieben soll. Engel haben keinen Hunger.
Du bist so stark, verdammt. Du bestimmst mein Leben, mein Handeln, mein Fühlen. Warum hast du dich so eingebrannt in meinem Leben?

In mein Fühlen und Denken?
Warum denke ich, dass ich dich brauche?
Mich einsam fühle ohne dich?
Ich will endlich leben.

Denn vor mir liegt ein Leben, welches ich bis zuletzt mit den Füßen getreten habe. Immer wieder kommst du angekrochen und ich probiere, dich weg zu stoßen. Du bist eine bitterböse zerstörerische Krankheit und sonst nichts. Du hast meine Seele zerstört, getötet, jeden Tag mehr, immer weiter und weiter.

Mein Körper kann nicht mehr, ich kann so nicht mehr.

Jeder Schritt ist ein Schritt zu viel, meine Beine sind so wackelig wie Pudding. Ich will endlich wieder Spaß haben, mich nicht mehr schlecht fühlen beim Essen.

Ich will wieder leben, richtig leben. Nicht mit dir und auch nicht mit angezogener Handbremse, ich will vorwärts kommen, nicht nur existieren.

Ich hoffe so sehr, dass ich irgendwann das Kriegsbeil begraben kann und anfangen werde, zufriedener zu sein mit mir.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone