Die vierundvierzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Es stimmt tatsächlich, dass es einerseits guttut, all den Seelenmüll runterzuschreiben und andererseits hilft es mir auch, eure Geschichten zu lesen, um zu spüren, nicht allein zu sein. Ich finde mich immer wieder in euren Erzählungen. Und eins kommt immer durch: Zwanghaftes Verhalten, Isolation und daraus resultierende Einsamkeit.

Ich möchte euch von mir erzählen:
Ganz ganz kurz zu meiner Kindheit. Als ich fünf war, trennten sich meiner Eltern. Mein Vater ist noch heute Alkoholiker. Meine Mutter zog mit mir und meinen Geschwistern aus und direkt mit einem anderen Mann zusammen. Ein Jahr später bekam sie dann von ihm Zwillinge. Zehn Jahre wurde ich von meinem Stiefvater sexuell missbraucht. Mit 16 bin ich von zu Haus ausgezogen und habe ihn angezeigt – es wurde aufgehoben, wegen Mangel an Beweisen.

Wenn ich zurückdenke, war ich schon immer essgestört. Ich war immer dicker als alle anderen Kinder, wurde deshalb immer belächelt, habe einfach gern gegessen und als Teenager erreichte ich dann bei einer Größe von 157 cm, satte 120 kg!

Mit zehn wog ich 50 kg und wurde in eine Kur zum abnehmen geschickt, sechs Wochen lang, mit dem mir persönlichen Ziel, fünf kg abzunehmen. Das habe ich geschafft. Das Essen wurde abgezählt, jeden Tag Zweifelderball, ständig gewogen werden…

Die fünf kg Abnahme haben nicht lang angehalten, ich habe Essen schon immer gut gefunden.

Mein ganzes Leben mangelte es mir nie an Bewegung, ich habe immer gern Sport getrieben und war immer unterwegs. Mit 22 wendete sich mein Leben komplett. Ich meldete mich (wie schon so oft) im Fitnessstudio an und ging 7 mal in der Woche dorthin, dies hielt ich zur Abwechslung mal tapfer durch. Ich begann wieder eine Diät, mal eine Woche hungern, mal nur ein mal am Tag essen, mal mit mindestens drei Stunden Pause essen, mal kein Zucker, mal keine Kohlenhydrate – ihr kennt das.

Ich wurde im Gegensatz zu sonst wirklich eisern und dies zeigte immer mehr Erfolg. Ich verlor mit all der Disziplin in einem Jahr 60 kg. Alle bewunderten meine Stärke und lobten mich. Ich zeigte mich gern, war aber nie zufrieden. Ich wollte mehr, weil alle anderen es toll fanden und weil für mich gilt: Dünnsein ist schön!

Es funktionierte nicht mehr, ich nahm nicht mehr ab, zum Sport schaffte ich es nicht oder hatte kein Bock und die Disziplin war auch nicht mehr so ganz da. Dieses ständige Hungern hat schlapp und müde gemacht, ständig kippte ich um und außerdem hatte ich ewig nichts Süßes mehr gegessen.

Ich weiß nicht mehr, wann es das erste mal war aber ich erinnerte mich, dass es auch anders geht, nämlich fressen und kotzen. Ich tastete mich heran, googelte, wie man am besten kotzen kann und probierte mich aus. Es klappte wunderbar. Ich war im Paradies – alles essen, ohne das etwas passiert und es funktionierte wirklich. Ich habe zwar nicht abgenommen aber ich konnte essen WAS ICH WOLLTE, SO VIEL ICH WOLLTE UND WANN ICH WOLLTE. Ich glaubte zu träumen. Die Jungs vom Bringdienst kannten mich, mal Pizza, mal Burger, Nudeln… und immer was Süßes für danach. Manchmal mehrmals am Tag. Ich wurde immer besser und fand raus, dass es sich mit Kohlensäure leichter kotzt als mit stillem Getränk, allgemein mit Flüssigkeit besser als ohne. Weiche, sahnige Sachen lassen sich easy wieder loswerden, schwere Teigwaren eher komplizierter. Die letzte Rettung ist Salzwasser, dass ist zwar eklig aber wirkt Wunder.

Nun hatte ich auch wieder Freude am Leben, konnte wieder zum Sport und alles war schön. Alles war gut, bis mir auffiel, wie meine Hände aussahen, mein Körper abbaute (Zähne kaputt, ständige Magenprobleme, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, immer wieder angeschlagen). Außerdem sind diese ständigen Fresskäufe unfassbar kostenintensiv. Da ich es selber schade fand, Pizza für 15 Euro wieder auszukotzen, kaufte ich sie nun im Supermarkt für drei Euro und packte mir Käse drauf. Das reichte für „kurzes Glück“ auch.

Ich bin immer wieder erstaunt, was alles so in mich rein passt. Ne Pizza, ne Tafel Schokolade, Chips… das ist ne Ration für nen Mädelsabend zu fünft.!! Ich habe mir dann irgendwann Hilfe gesucht, weil ich feststellte, dass ich mich aus dem sozialen Leben raushalte. Bloß nicht mit anderen Treffen, weil dann muss man sich irgendwie für alles erklären. Ich stellte fest, welchen sozialen Charakter Essen hat. „Wollen wir n Kaffe trinken“, „Wir könne ja Eisessen…“ und es wurde nie akzeptiert, jedes Mal „Nein!“ zu sagen. Die Therapie war okay, doch so richtig half nichts, das quittierte mir auch meine Therapeutin, sie gab mir das Gefühl, an mir zu verzweifeln… nach 1,5 Jahren und viel Geld weniger, schlich ich mich aus der Therapie.

Inzwischen entwickelte ich immer neuere, schlauere Ideen, um das Essen (vor anderen) drumherum zu kommen. Ich dachte mir eine Nahrungsunverträglichkeit aus (obwohl es mir ohne Gluten und Laktose tatsächlich besser geht). Durch die Unverträglichkeit, komme ich um SO VIELE SACHEN HERUM!! Niemand ist mehr böse wenn ich sage „Sorry, aber das vertrage ich nicht!“ Neu ist leider, dass meine Familie nun teure glutenfreie Sachen kauft, …

Ich wünsche mir, dass ich nicht alt werde, weil ich glaube, dass mich diese Meise nie ganz verlässt, ich weiß jedenfalls nicht wie sie mich loslassen wird. Ich kann mir einfach nicht vorstellen gesund zu werden. Die ständige Angst vorm Zunehmen macht mich fertig. Mittlerweile gehe ich zitternd in den Supermarkt, bin nicht in der Lage, das Geld aus der Geldbörse zu nehmen und zu bezahlen, weil ich es nicht erwarten kann, die Tüte Chips und die Schokolade direkt nachdem ich den Laden verlassen habe, aufzureißen und mir in den Mund zu stopfen. An manchen Tagen schaffe ich es nicht, zu arbeiten, weil ich essen muss! An anderen Tagen fresse und kotze ich in der Arbeit, auf öffentlichen Toiletten oder ich stehe nachts auf und kotze draußen, weil zu Haus jemand schläft und mich neben sich glaubt. Ich lüge meine Familie, Freunde und Partner an.

Ich stellte fest, dass sich eigentlich in meiner Welt alles nur um MICH dreht, ich bin fett, ich bin nicht gut genug, ich schaff nichts, ich schaff es ja nicht mal mehr diszipliniert zu sein, ich schaff es nicht gesund zu werden, ich schaffe nichts! Dieses ganze Essen hat mich unglaublich egoistisch und selbstzerstörerisch gemacht. Ich boykottiere nicht nur mein Leben sondern auch noch das meines Umfeldes, weil ich mit meinen Launen alles runterziehe.

Ich schaffe es nicht aus diesem Kreis, … ich weiß nicht wie es besser werden soll,… besser vielleicht aber ich glaube nicht daran, dass ich jemals wieder ganz frei bin.

Im Januar startete der neue GEWICHTIG Workshop, ich bin dabei – es ist meine letzte Hoffnung.

Danke, dass ich mich mitteilen darf.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone