Essstörungen: Über mögliche Ursachen und Chancen

Menschen, die unter Essstörungen leiden haben eins gemeinsam:

Die permanente, gedankliche Beschäftigung mit Nahrungsmitteln, Mahlzeiten und mit ihrem Gewicht.

Anders ausgedrückt: Menschen mit Essstörungen sind geradezu besessen von Essen und von ihrem Aussehen. Und je nach Art der Essstörungen (Bulimie, Magersucht oder Binge Eating) drückt sich diese Besessenheit durch wiederholtes Essen und Erbrechen, durch ständiges Hungern oder durch wiederholtes Überessen aus. Menschen mit Essstörungen sind nicht in der Lage, dieses Verhalten zu kontrollieren. Sie erreichen nie, was sie eigentlich wollen und sind gefangen in einem Teufelskreis der durch Schuld, Trauer, Scham, Angst und Wut genährt wird.

Über den Prozentsatz der Jungen und Männer mit Essstörungen gibt es unterschiedliche Schätzungen und Aussagen. Fakt ist jedoch, das überwiegend Mädchen und Frauen an Essstörungen leiden. Auch über deren Anzahl gibt es unterschiedlichste Statistiken und Studien. Allen gemein ist jedoch, dass sie von einer enorm hohen Dunkelziffer ausgehen. Außerdem ist den Angaben der Krankenkassen zu entnehmen, dass Essstörungen weiterhin zunehmen.

Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt es mittlerweile bei jedem dritten Mädchen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren Hinweise auf Essstörungen.

 

Was sind die Ursachen von Essstörungen?

Es gibt unterschiedlichste Meinungen und Erklärungsansätze darüber, welche Kombination von persönlichen und gesellschaftlichen Faktoren der Nährboden für Essstörungen ist:

  • Negatives Selbstbild:

Frauen mit Essstörungen haben meist Mütter (gehabt), die mit ihrem Aussehen und ihrem Gewicht unzufrieden sind/waren. Ihnen fehlt ein positives Role Model. Viele haben außerdem vom Vater nicht genügend Unterstützung und Beachtung erhalten. Sie sind nicht „gesehen“ worden. Das Selbstbild ergibt sich durch das Verhalten der Eltern und nicht durch deren Aussagen.

  • Ungesunde Schönheitsideale:

In unseren westlichen Wohlstandsgesellschaften wird Mädchen und Frauen vermittelt, dass Schönheit die Voraussetzung für ein glückliches und erfolgreiches Leben ist. Und schön sein bedeutet bei uns vor allem, dünn sein. Mädchen und Frauen mit Essstörungen wollen diesem Ideal um jeden Preis entsprechen weil sie sich dadurch Aufmerksamkeit und Anerkennung erhoffen.

  • Erhöhte Ansprüche:

In den Herkunftsfamilien vieler Mädchen und Frauen mit Essstörungen steht/stand oft der Leistungsgedanke im Vordergrund. Dadurch entwickelt sich ein perfektionistischer Anspruch an das eigene Aussehen und die eigenen Leistungen woraus sich der Glaubenssatz entwickelt, einfach nie gut (genug) zu sein.

  • Familiäre Suchtproblematik:

Viele Mädchen und Frauen mit Essstörungen kommen aus Familien, in denen Suchterkrankungen wie zum Beispiel Alkoholismus vorhanden sind. Solche Familien werden von Gefühlen wie Scham, Schuld, Angst und Wut beherrscht, mit denen sich aber nicht offen und ehrlich auseinander gesetzt wird.

  • Neurologische Störungen:

Die „chemischen Grundkonfiguration“ (vor allem die sog. Transmitter Serotonin, Dopamin und Noradrelin) ist bei Mädchen und Frauen mit Essstörungen aus der Balance geraten. Dies kann entweder durch unangenehme Erlebnisse und/oder durch eine längerfristige falsche Ernährung, z. B. eine unausgewogene Diät, entstanden sein.

  • Doppelte Botschaften:

Mädchen und Frauen mit Essstörungen sind innerlich unsicher. Und Unsichere sind besonders empfänglich für die Vielzahl gegensätzlicher Botschaften, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind. Wenn wir uns beispielsweise Zeitschriften anschauen, finden wir dort Aussagen wie z. B. „Sei du selbst“ und zwei Seiten weiter steht: „So musst du sein, um Jungs zu beeindrucken“ oder „So verlierst du deinen Winterspeck“ und vier Seiten weiter: „Du musst unbedingt unser trendiges Sahnetortenrezept ausprobieren“.

  • Symbiotische Beziehungen:

Mädchen und Frauen mit Essstörungen bereitet es oft große Schwierigkeiten, sich von zu Hause abzunabeln. Sie haben von ihren Eltern nicht gelernt, was eine gesunde Abgrenzung bedeutet und sind mit Sätzen: „Ich mach das doch alles nur für dich“ oder „Mir geht es nur gut, wenn es dir auch gut geht“ manipuliert worden. Sie fühlen sich schuldig und wollen „das Opfer der Eltern“ zurückzahlen in dem sie (unbewusst) deren Wohlergehen über ihr eigenes setzen. Dieses Verhalten übertragen sie später meist in ihre Liebesbeziehungen.

  • Ersatzreligion Ernährung(strend):

Paleo, Vegan, Low Carb, Kokoszucker, Chia-Samen, Spirulina: Wir werden ständig mit neuen Ernährungstrends, Superfood und einem dazugehörigen Guru bombardiert. Was der eine gut findet, findet der andere schlecht und im nächsten Jahr gibt es die nächsten Trends. Und im Fernsehprogramm gibt es keinen Tag, der ohne eine Koch- oder Restaurant-Show auskommt. Viele Mädchen und Frauen mit Essstörungen folgen immer wieder neuen Trends mit der alten Hoffnung endlich zu bekommen wonach sie sich sehnen.

Wie können daraus Essstörungen entstehen?

Vereinfacht und verkürzt kann beispielsweise Bulimie so entstehen:

Nehmen wir einmal an, ein unzufriedenes und unsicheres Mädchen namens Sofia möchte abnehmen. Denn es hat sowohl von seiner Mutter als auch von der Gesellschaft vermittelt bekommen, dass man dünn sein muss um glücklich und selbstbewusst sein zu können.

Die Diät scheint erfolgreich, Sofia nimmt ab. Vielleicht bekommt sie sogar positives Feedback aus ihrer Umgebung. Erfreut darüber beschließt Sofia, noch mehr abzunehmen. Nach einiger Zeit bemerkt sie allerdings, dass das immer schwieriger wird.

Erneut tauchen die altbekannten negativen Gefühle auf. Sofia zweifelt an sich, und wechselt zu einer extremeren Diät. Sie zwingt sich also, noch weniger zu essen. Während ihr Körper permanent nach Essen schreit, ist Sofias Kopf ständig mit den Zahlen auf der Waage und in den Kalorientabellen beschäftigt.

Eines Tages erfährt Sofia in der Schule, dass sich ihre beste Freundin eine neue beste Freundin gesucht hat. Sie kommt verletzt und wütend nach Hause und kann sich plötzlich nicht mehr beherrschen. Wie ferngesteuert fällt Sofia über all das Essen her, das sie sich wochenlang untersagt hat. Sie stopft unkontrolliert, bis ihr der Magen weh tut. Entsetzt realisiert Sofia, was sie getan hat und sie will diese Kalorien um jeden Preis wieder loswerden.

Sofia schließt sich im Badezimmer ein und steckt sich den Finger in den Hals. Wie eine Fontäne schießt ihr Mageninhalt in die Toilettenschüssel. Sofia ist erleichtert. Und sie glaubt, dass sie einen Weg gefunden hat, ungestraft essen und dabei trotzdem weiter abnehmen zu können. Natürlich will sie das nur im Notfall wieder tun. Und dann beginnen die Notfälle sich zu häufen…

Irgendwann bemerkt Sofia entsetzt, dass nicht sie die Fressanfälle unter Kontrolle hat, sondern die Fressanfälle sie. Sofia wollte abnehmen um sich besser zu fühlen, was sie bekommen hat, ist Bulimie.

Essstörungen: Die Geschichte hinter der Geschichte

Es ist nahezu irrelevant, wie positiv die Aussagen der Mutter über die Tochter sind. Wenn Mütter sich selbst häufig kritisch im Spiegel betrachten und chronisch mit ihrem Gewicht unzufrieden sind, entwickeln auch die Töchter ein negatives Selbstbild. Vor allem, wenn sie zusätzlich vom Vater zu wenig Beachtung erfahren.

Essstörungen entstehen im Kopf.

Denn die gedankliche Gleichung lautet: Traumgewicht = Traumleben. Und dann erwachen die Mädchen und Frauen im Alptraum Essstörungen.

Diäten sind Einstiegsdrogen in die Essstörungen. Der Verstand beschäftigt sich verstärkt mit Essen und Gewicht während der Körper signalisiert bekommt, dass eine Hungersnot ausgebrochen ist. Da unser Körper biologisch darauf ausgerichtet ist, sich am Leben zu halten, „lernt“ er mit jeder neuen Diät, mit noch weniger auszukommen. Daraus ergibt sich auch der berüchtigte Jojo-Effekt. Die Formel: immer weniger essen gleich immer weniger Gewicht funktioniert nicht. Diäthaltende glauben allerdings, dass es ihnen nur an Willenskraft mangelt und so verstärken Diäten zusätzlich das negative Selbstbild.

Sofia wird von ihrer Freundin verraten und versteht die Welt nicht mehr: Sie hat abgenommen und doch ist nicht automatisch alles perfekt geworden? Auf Grund ihres negativen Selbstbilds fehlt ihr die nötige psychische Widerstandsfähigkeit. Und anstatt sich mit der Freundin bzw. dem „Verrat“ auseinander zu setzen, frisst sie buchstäblich all ihren Frust in sich hinein. Sie findet ihr Leben zum Kotzen! Und genau das tut sie dann auch, wieder und wieder, wie ferngesteuert.

Denn Kotzen ist Druck ablassen. Es öffnet ein Ventil, durch das die angestauten Gefühle kurzfristig entweichen können, mit denen Sofia nicht anders umzugehen weiß. Der Körper ist das Schlachtfeld, auf dem Mädchen und Frauen mit Essstörungen ihre inneren Kämpfe austragen, weil sie es im Außen nicht können.

Warum können Essgestörte nicht einfach aufhören?

Essstörungen sind psychosomatische Krankheiten.

„Psycho“ bedeutet „Seele“ und „Soma“ bedeutet „Körper“. Bulimie, Magersucht und Binge Eating haben seelische Ursachen, die sich körperlich äußern.

Anders gesagt: Durch Essstörungen drückt der Körper aus, dass die Seele am verhungern ist.

Krankheiten sind etwas, für das sich keiner bewusst entscheidet. Essgestörte sind nicht an ihren Essstörungen Schuld! Und auf Grund des Suchtcharakters können Mädchen und Frauen mit Essstörungen nicht einfach damit aufhören, egal wie sehr sie es wollen und versuchen.

Erst wenn Essgestörte lernen ihre Seele zu füttern, werden die Essstörungen sie loslassen.

Die Chancen hinter den Essstörungen

Wenn Essgestörte gesund werden wollen, müssen sie erst mal akzeptieren, dass sie Essstörungen haben. Sie müssen sich eingestehen, dass sie ihr Essverhalten nicht mehr kontrollieren können. Und der Wunsch, gesund zu werden, muss größer sein als der Wunsch, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen. Mädchen und Frauen mit Essstörungen müssen ihr „weight watching“ reduzieren und ihr „mind watching“ verstärken. Denn die größte Problemzone die Essgestörte tatsächlich haben, sind ihre negativen Gedanken (über sich selbst).

Mädchen und Frauen mit Essstörungen  „funktionieren“ oft im Außen sehr gut und scheinen ihr Leben im Griff zu haben. Sie müssen sich jetzt an dieses Außen wenden und offen eingestehen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Es gibt unzählige Hilfsangebote für Mädchen und Frauen mit Essstörungen: Ärzte, Therapeuten, Selbsthilfegruppen, Kliniken,Informationsstellen, Wohngruppen usw.

Essstörungen ernähren sich von Heimlichkeiten und deshalb ist es enorm wichtig, sich anderen mitzuteilen. Dann stellen Essgestörte erstaunt und erleichtert fest, dass ihnen Verständnis entgegengebracht wird und sie nicht – wie insgeheim befürchtet – die einzigen sind, die tun, was sie tun. Stoßen Mädchen und Frauen mit Essstörungen nicht auf Verständnis, sind sie an der falschen Stelle!

Dann gilt es zu begreifen, dass Essstörungen Überlebensstrategien sind, die an einem bestimmten Punkt geholfen haben, weiter machen zu können. Aber jetzt ist diese „Überlebensstrategie Essstörungen“ selbst zu einem Problem geworden und es müssen Alternativen gefunden werden.

Mädchen und Frauen mit Essstörungen können lernen, Konflikte auszuhalten. Sie dürfen „nein“ sagen (wenn sie nein meinen). Und sie können Schritt für Schritt lernen, sich von ihren ungesunden, perfektionistischen Ansprüchen zu verabschieden. Es geht darum zu erleben, dass sie gut sind, genau so, wie sie sind.  Für viele Mädchen und Frauen mit Essstörungen war es in der Kindheit überlebenswichtig, sich dem Willen anderer zu beugen und jetzt müssen sie begreifen, dass es überlebenswichtig ist, ihren eigenen Willen zu erkennen, damit sie sich nicht länger den Essstörungen beugen müssen.

Und dann taucht die Frage „Wer bin ich denn eigentlich und was will ich wirklich?“ auf. Denn Mädchen und Frauen mit Essstörungen sind so sehr darauf fixiert, es anderen Recht zu machen und im Außen zu funktionieren, dass sie ihr Innen gar nicht (mehr) kennen.

Jetzt geht es darum, sein Seelenfutter zu finden, damit die Essstörungen verhungern:

Wer bin ich, was macht mir Spaß, was erfüllt mich, wovon werde ich innerlich so richtig satt?

Und es ist wichtig, demjenigen die Verantwortung über Essen und Gewicht zurückzugeben, der tatsächlich damit umgehen kann: Dem Körper! Es ist sein natürlicher Job, ein persönliches Idealgewicht zu finden und zu halten und mitzuteilen, was und wie viel Essen er dazu benötigt. Mädchen und Frauen mit Essstörungen können wieder lernen, ihrem Körper zu vertrauen und so natürlich zu essen, wie sie es als kleine Kinder automatisch getan haben. (Wenn man sie gelassen hat.)

Es braucht viel Zeit, Mut und Geduld diesen Weg zu gehen. Und jeder Weg raus aus den Essstörungen ist gepflastert mit Umwegen und Rückfällen. Aber diese Rückfälle in Essstörungen sind letztlich nichts anderes, als eine TO DO Liste der Seele, die es abzuarbeiten gilt.

Und am Ende des Weges wird sich die ehemals Essgestörte selbst finden und verwundert feststellen, dass die Essstörungen irgendwo und irgendwann auf der Strecke geblieben sind.

Woher ich all das weiß? Weil ich selbst Essstörungen hatte und heute wieder ganz gesund bin!